Führung. Macht. Dialog?
Kann Führung gleichzeitig klar entschieden und dialogisch sein? In diesem Beitrag reflektiere ich das Spannungsfeld zwischen Macht und Dialog in der Führung und gebe Impulse für eine verantwortungsvolle Praxis, die weder in autoritäre Anweisungen ohne Gestaltungsspielraum abgleitet noch Konsens als einzig legitime Entscheidungsgrundlage akzeptiert – sondern das „Sowohl-als-auch“ von Macht und Dialog als Ausdruck echter Führungskunst versteht.
Vor kurzem besuchte ich einen Kunden für die Klärung eines Auftrags. Am Ende unseres Gesprächs erwähnte er, dass er einen meiner Artikel mit dem Titel «Teamentwicklung im Schatten machtbesessener Führung» mutig gefunden habe, denn ich könne damit ja potentielle Kunden abschrecken. Ihn persönlich habe das Thema jedoch angesprochen, da er darin ein Signal meinerseits sah, dass ich mich nicht scheue, Führungsverhalten in Frage zu stellen und zahlungskräftigen Kunden nicht nach dem Munde rede.
Mit seiner persönlichen Resonanz auf meinen Artikel überraschte er mich und stimmte mich auch nachdenklich. Nachdenklich bin ich ohnehin in diesen Zeiten, denn wir erleben auf der weltpolitischen Bühne Formen der Führung, die sich im Spannungsfeld von Macht und Dialog ganz unterschiedlich positionieren. So bewog mich seine Frage dazu, einmal grundsätzlich meine Gedanken zum Verhältnis von Macht und Dialog darzulegen.
Machtgebrauch und Machtverzicht
Eine Führungskraft, die wirkungsvoll führen will, muss willens und fähig sein, die Macht, die ihrer Funktion oder ihrem Amt innewohnt, zu gebrauchen, um in der Krise schnell zu handeln und in weniger bedrohlichen Zeiten zu gestalten durch …
- strategische Entscheidungen,
- die Vorgabe von Zielen und
- die Definition von Rahmenbedingungen für selbstorganisiertes Handeln fähiger Mitarbeitenden im Dienste der Organisation.
Eine Führungskraft, die wirkungsvoll führen will, muss willens und fähig sein, auf den Einsatz von Machtbefugnissen, die ihrer Funktion innewohnen, zu verzichten, wenn Dialog auf Augenhöhe das Gebot der Stunde ist. Zum Beispiel, weil …
- Menschen für eine gemeinsame Sache gewonnen,
- ihr vielschichtiges Erfahrungs- und Fachwissen benötigt,
- die Kraft der Selbstorganisation genutzt werden soll und
- grundsätzliche Werte der Organisation gewahrt bleiben müssen.
Führungskunst bedeutet immer auch, das Zusammenspiel von Macht und Dialog zu beherrschen. Wohlwissend, dass das eine das andere ergänzt. Sie sind die sprichwörtlichen zwei Seiten ein und derselben Medaille. Mit einem anderen Bild gesprochen: Gleich einer auf dem Seil tanzenden Person will das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Formen der Führung in jedem Moment neu gemeistert werden. Kein Seiltänzer und keine Seiltänzerin besitzt das Gleichgewicht ein für alle Mal und nimmt es am Ende des Tages mit nach Hause – wie es Varga von Kibéd in seiner Keynote zum Thema «Umgang mit Paradoxien in Organisationen» für das OE-Forum Schweiz 2025 so treffend formuliert hat.
Das Gleichgewicht will immer wieder von Augenblick zu Augenblick neu errungen werden. Und so bewegt sich auch die führende Person zwischen zwei Kräften: sie kann der Verführung der Macht erliegen und alles kontrollieren wollen. Sie kann sich ebenso gut im Dialog verlieren und es allen recht machen wollen. Solch ein Absturz in die Übertreibung des Führens durch Macht oder Dialog hat tragische Folgen für die Organisation. Warum tragisch? Weil Führungskunst im meisterlichen Sowohl-als-auch besteht und der Absturz in das ein oder andere Extrem mit etwas mehr Weitsicht und Mut hätte vermieden werden können. Tragisch, weil so viel verloren geht, wenn Führung sich zu sehr auf die eine oder andere Seite neigt: Engagement, kreative Ideen, kollektive Lösungskompetenz, Vertrauen von Kunden, Mitarbeitenden und Kooperationspartnern - und womöglich die erfolgreiche Zukunft des Unternehmens schlechthin.
Wer selbst schon einmal versucht hat, auf einem Seil oder Band zu balancieren, kennt das Geschehen kurz vor dem Absturz: ein sich aufschaukelndes, zunehmend chaotisches Pendeln zwischen Korrekturversuchen – bis man hoffentlich noch den kontrollierten Absprung schafft. Führungskräfte, die in Zeiten der Verunsicherung ähnlich zwischen Dialogangeboten und Machtentscheidungen schwanken, verunsichern ihre Mitarbeitenden und hinterlassen im schlimmsten Fall verbrannte Erde – unabhängig davon, wie sie sich selbst aus der Misere retten.
So erlebte ich es vor vielen Jahren mit einer Führungskraft, die einen Workshop kurzerhand abbrach, als die Ideen der Mitarbeitenden zur Bewältigung einer gemeinsamen Herausforderung ihren Vorstellungsrahmen sprengten. So entsteht Misstrauen: Bei der nächsten Einladung zum Dialog werden die Mitarbeitenden ahnen, womit sie zu rechnen haben, wenn sie ihre Führungskraft beim Wort nehmen.
Führungskunst bedeutet in einer solchen Situation: offen sein für das Unerwartete, die Ideen der Mitarbeitenden würdigen, sich Bedenkzeit nehmen, ihre Beiträge in eine wohlüberlegte Entscheidung einfließen lassen – und diese zu gegebener Zeit erläutern sowie ein offenes Ohr für die Resonanz der Mitarbeitenden haben (siehe unten).
Verantwortungsvolle Führung bedeutet abgesehen von Schönwetter-Perioden auch unliebsame Entscheidungen zu treffen, die den Mitarbeitenden zugemutet werden müssen, um das Überleben und Gedeihen des Unternehmens angesichts disruptiver Entwicklungen im gesellschaftlichen und marktwirtschaftlichen Umfeld zu ermöglichen.
Neue Technologien bringen angestammte Platzhirsche auf dem Markt zum Wanken: Automobilkonzerne, die aufgrund des technologischen Wandels – weg von Verbrennertechnologie hin zu E-Mobilität – mit Unternehmen konkurrieren, die sie gestern noch nicht kannten, während für ihre Automobilzulieferer ein Teil ihres Kerngeschäftes wegbricht: Welche Fahrzeuge brauchen morgen noch ein Getriebe?
Tektonische Verschiebungen im geopolitischen Gefüge mischen den globalisierten Handel auf und führen zu unvorhergesehenen Verwerfungen in gut eingespielten Lieferketten.
Und natürlich potenziert in dieser Gemengelage der Klimawandel und dessen Folgen den Grad des Abenteuers, in dem wir alle uns befinden und Führungskräfte ihre Unternehmen steuern dürfen: Standorte und Strukturen, Prozesse und Funktionen müssen neu gestaltet und definiert werden. Die für solche Funktionen erforderlichen Kompetenzprofile sind schneller formuliert als neue fähige Mitarbeitende rekrutiert oder bestehende geschult werden können, um diesen Anforderungen gerecht zu werden. Gleichzeitig sinkt der Bedarf an ehemals hochgeschätztem Know-how - wie baut man ein Getriebe?
Bei solchen Entscheidungen wird selten auf die Zustimmung aller Betroffenen gewartet – allenfalls werden die gesetzlichen Vorgaben – zum Beispiel geltender Kündigungsschutz und Einbindung des Betriebsrates – berücksichtigt.
Wer solche Entscheidungen trifft und durchsetzt, hat Macht und nutzt sie auch.
Diese Form des Einsatzes von Macht ist jedoch nur ein Aspekt von Gestaltungskraft. Eigenmächtige Entscheidungen durch eine Führungskraft und / oder ihr Führungssystem (zum Beispiel Verwaltungsrat oder Vorstand) müssen, wenn sie denn eine konstruktive Wirkung entfalten und Neues bewirken sollen, durch einen zweiten unverzichtbaren Aspekt der Gestaltungskraft ergänzt werden: Dialog.
Eine Denkfigur für den klugen Umgang mit komplementären Kräften
Mit der nützlichen Denkfigur des Wertequadrats, das von Schulz von Thun populär gemacht wurde und dessen Ursprung auf Aristoteles zurückgeht, lässt sich Gestaltungskraft als eine gelungene Balance zweier Tugenden verstehen: Der Wille zur Macht und der Wille zum Dialog. Diese Tugenden können – jeweils ohne ihre komplementäre Tugend – in eine entwertende Übertreibung kippen: Der unbegrenzte Wille zur Macht wird zu Despotismus und Unterwerfung und der unbegrenzte Wille Dialog führt zu Verzettelung und Tatenlosigkeit (siehe hierzu auch: Die Quadratur der Werte).
Nun ist keineswegs jede überbordende Ausübung von Macht als Ergebnis eines ungestillten Machthungers zu verstehen. Viel häufiger erlebe ich den übermäßigen Einsatz zur Verfügung stehender Machtbefugnisse als einen eher reflexhaften denn reflektierten Versuch, angesichts unerwarteter Komplexität die Organisation im Sinne eigener Vorstellungen zu steuern. Gefühlte Ohnmacht wird dabei zur großen Verführung, mit den Hebel der Macht erreichen zu wollen, was nur im Dialog mit den Geführten gelingen kann – insbesondere für Führungskräfte, die Ohnmacht zum Tabu erklärt haben.
Der Unterschied zwischen Fröschen und Menschen
Manch einer mag beim Plädoyer für Dialog an den gern zitierten Spruch denken: «Wenn du den Sumpf austrocknen willst, frage nicht die Frösche um Erlaubnis.» Der Spruch ist so betörend wie kurzsichtig, denn er lässt die entscheidende Frage offen: Was bleibt, wenn die Frösche verschwunden sind und der Sumpf ausgetrocknet ist? Was soll dann aufgebaut werden? Will ich das Unternehmen – um im Bild zu bleiben - erst einmal austrocknen, bevor ich es – mit wem eigentlich? - zu neuer Blüte führen will?
Falls das Unternehmen nicht ausgetrocknet und durch ein neues ersetzt werden soll, muss es einen Transformationsprozess durchlaufen – mit jenen verbleibenden Mitarbeitenden, die die Kernkompetenzen des Unternehmens verkörpern. Anders als Frösche beobachten Menschen sehr genau, wie mit ihres gleichen umgegangen wird. Werden sie die Nächsten sein? Vorausschauend werden die Fähigsten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen – und als erfahrene Fachleute mit tiefem Verständnis komplexer Wertschöpfungsketten sowie Akteure vitaler Kunden-Lieferanten-Netzwerke das Unternehmen verlassen.
Hier ist die Einladung zum Dialog auf Augenhöhe das Gebot der Stunde. Nur so können die Verbleibenden dafür gewonnen werden, ein neues Kapitel der Unternehmensgeschichte aktiv mitzuschreiben.
Führung in diesem Sinne bedeutet: Spielräume definieren, informieren, Fragen stellen, zuhören, dazulernen, sich gemeinsam auf eine Entdeckungsreise begeben, neue Ideen entwickeln – und den Mut haben, solche Prozesse zu initiieren und lebendig zu halten.
Rahmen setzen bedeutet: Wir erläutern getroffene Entscheidungen klar, begründen sie nachvollziehbar und laden zur gemeinsamen Gestaltung der Zukunft ein. Dabei sind uns die Resonanz, Gedanken, Bedenken und Ideen der Mitarbeitenden wichtig – nicht als bloße Rückmeldung, sondern als wertvolle Impulse zur Weiterentwicklung des Vorgegebenen.
Der kraftvolle Anfang eines jeden Dialogs
Jeder wesentliche Dialog beginnt nicht mit einer Anordnung, sondern mit einer wohlgesinnten Frage auf Augenhöhe – zum Beispiel: Was bewegt euch angesichts dessen, wofür wir euch zu aktiver Mitarbeit einladen? Was spricht euch an? Wo habt ihr Bauchschmerzen?
Ein solcher Dialog bedeutet nicht, Macht abzugeben, sondern eine Chance zu nutzen: Gerade in der Zusammenschau voneinander abweichender Perspektiven auf eine gemeinsame Sache lässt sich eine neue Informations- und Erkenntnisquelle erschliessen.
Keine Frage - abweichende Perspektiven können anstrengend sein. Unser Gehirn ist als höchst effizient arbeitendes Organ (nur ca. 20 Watt pro Stunde) darauf ausgelegt, Komplexität zu reduzieren, um handlungsfähig zu bleiben. Ambivalente Einschätzungen einer Situation können belastend sein und beherztes Handeln verzögern. «Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust» (Goethe, Faust 1).
Obwohl unser Gehirn dazu neigt, widersprüchliche Informationen so zu filtern, dass die Illusion der Eindeutigkeit entsteht, hat es auch gelernt, Widersprüche als wertvolle Informationsquelle zu nutzen. Unsere Augen – sofern sie gesund sind und nicht durch eine Fehlstellung zum Schielen neigen – liefern dem Gehirn bekanntlich leicht abweichende visuelle Eindrücke unserer Umwelt. Diese Unterschiede nutzt das Gehirn gezielt: Es verarbeitet die Abweichungen als zusätzliche Informationsquelle und errechnet daraus eine Tiefendimension.
Warum dieser Exkurs in die Kunst der Wahrnehmung? Für mich ist der evolutionär früh entwickelte Kunstgriff informationsverarbeitender Lebewesen eine eindrückliche Metapher für den Mehrwert, den wir Menschen gewinnen, wenn wir Sachverhalte und Herausforderungen aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Statt reflexhaft mit rechthaberischen Überzeugungsversuchen auf abweichende Sichtweisen zu reagieren, sollten wir Abweichungen unserer Betrachtungsweisen als wertvolle Informationsquelle nutzen und erkunden. So erschliessen wir uns gemeinsam eine zusätzliche Tiefendimension im Verständnis komplexer Herausforderungen. Diesen Prozess der Integration abweichender Perspektiven beschreibt Otto Scharmer in seinem Buch "Theorie U" als Öffnung des Denkens ("Open Mind") und Öffnung des Herzens ("Open Heart"), die für die erfolgreiche Führung von Organisationen in einer zunehmend komplexen Umwelt unverzichtbar sind. Siehe hierzu auch meine Erläuterung des Modells von Otto Scharmer: Sinn. Auf der Suche nach dem verlorenen ''Wozu''.
Und ja, es gibt Grenzen für das Errechnen der Tiefendimension. Wenn die beiden Perspektiven aufgrund einer Fehlstellung unserer Augen zu stark voneinander abweichen, werden wir schielen, Doppelbilder sehen und Kopfschmerzen bekommen. So auch im sozialen Raum: Nicht alle abweichenden Perspektiven lassen sich zu einem gemeinsamen Bild mit zusätzlicher Tiefe errechnen. Dann gilt es, Widersprüchlichkeit auszuhalten, und auch Entscheidungen zu treffen, ohne es jedem recht machen zu können, um handlungsfähig zu bleiben – ganz im Sinne der Erkenntnis von F. Scott Fitzgerald:
gleichzeitig zwei widersprüchliche Ideen im Kopf zu haben
und trotzdem funktionsfähig zu bleiben"
Ingo Heyn
April 2025