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Die Quadratur der Werte

 


"Das Kennzeichen ausgezeichneter Intelligenz ist die Fähigkeit,
gleichzeitig zwei widersprüchliche Ideen im Kopf zu haben
und trotzdem funktionsfähig zu bleiben"
F. Scott Fitzgerald

 

 

 


 

 



Die Quadratur des Kreises bezeichnet ein klassisches Problem der Geometrie. Sie ist zu einer Metapher für unlösbare Probleme geworden.
 

Zu diesen Problemen gehören auch Konflikte, die aufgrund unterschiedlicher Wertvorstellungen festgefahren sind und trotzdem muss es irgendwie weitergehen.

Gibt es doch noch eine Chance?

Wie kann ich das herausfinden - zumal, wenn der Konflikt schon eskaliert ist?


In Entwicklungsprozessen, die ich begleite, erlebe ich häufig konflikthafte Arbeitsbeziehungen, die beträchtliche Energie und Aufmerksamkeit der Beteiligten binden:
 

Da ist zum Beispiel der Mitarbeiter, der besonderen Wert auf Genauigkeit und Fehlerfreiheit, kurz Perfektion legt, und soll mit einem Kollegen zusammenarbeiten, der es mit hundertprozentiger Fehlerfreiheit nicht so genau nimmt, weil ihm Kreativität und Schnelligkeit weit mehr am Herzen liegen. Die einfache Lösung: "Dann soll halt die Chefin entscheiden, was wichtiger ist, Qualität oder Quantität!" ist keine gute Lösung, solange sich das Verhalten beider Mitarbeiter im Rahmen der erwarteten Leistung bewegt und die Chefin bewusst auf eine engere Führung verzichten will.
 

Ein anderes Beispiel: Vor einiger Zeit wurde ich gebeten, die Klärung eines Konfliktes in einer Bank zu unterstützen. Dieser Konflikt war zum Zeitpunkt der Anfrage durch die Geschäftsleitung schon recht weit eskaliert, d.h. in zwei Bereichen war es schon zu verletzenden Äusserungen und "unmöglichen" Verhaltensweisen gekommen, die bei Mitarbeitern eines Grossprojektes zu einer Verweigerung weiterer Zusammenarbeit geführt hatten.
 

Der Brandherd dieser stark eskalierten Situation lag, wie sich später herausstellte, in der Überforderung einer Führungskraft auf unterer Ebene. Diese Überforderung zeigte sich jedoch nur indirekt und bedurfte einer systematischen Klärungsarbeit, die dadurch erschwert war, dass die beiden Leiter der vom Konflikt betroffenen Bereiche recht unterschiedliche Führungs- und Kommunikationsstile pflegten:

Der Leiter des Finanzbereichs war stolz darauf, sein "Herz auf der Zunge zu tragen" und ohne Umschweife zu sagen, was Sache ist. Sein Credo: "Jeder weiss, woran er mit mir ist! Ich bin nicht nachtragend, aber wenn mir was stinkt, dann sag' ich das auch." Der Leiter des IT-Bereichs hingegen legte sehr viel Wert auf einen höflichen und diplomatischen Umgangston. Er achtete darauf, sachlich zu bleiben, das Gesicht des Anderen zu wahren und eine freundliche und konstruktive Atmosphäre aufrecht zu erhalten.
 

Diese Unterschiede wirkten in der schwelenden Konfliktsituation wie ein Brandbeschleuniger und verschärften den Konflikt so sehr, dass eine strategisch wichtige Kundenbeziehung gefährdet war und der Vorstand sich genötigt sah, sich der Sache anzunehmen. Warum wirkten die unterschiedlichen Stile wie ein Brandbeschleuniger?
 

 


 

Wie sich in der gemeinsamen Analyse zeigte, hatte die Zusammenarbeit der beiden Bereichsleiter einmal respektvoll und freundlich begonnen. Im Stress des sich anbahnenden Konfliktes im gemeinsamen Projekt jedoch wirkte die Unterschiedlichkeit ihrer Kommunikationsstile ähnlich wie Öl, das zum Löschen ins Feuer gekippt wird. Die in der betrieblichen Öffentlichkeit geäußerten klaren Worte des Einen waren für den anderen eine Verletzung des Anstands. wohingegen die diplomatischen Versuche des Anderen, im Hintergrund eine für alle Beteiligten gesichtswahrende Klärung herbeizuführen, zum Vorwurf führten, er sei konfliktscheu und doppelzüngig.
 

Hier kommt das Wertequadrat ins Spiel, denn es ist nicht nur ein sehr nützliches Instrument, um solch einen untergründigen Wertekonflikt aufzudecken, sondern hilft auch, diesen so zu besprechen, dass die Konfliktpartner wieder bereit sind, das an sich Gute (also den Wert) hinter dem "unmöglichen" Verhalten des anderen zu sehen - und somit einander mit mehr Wertschätzung zu begegnen.
 

Was ist das Wertequadrat?


 

Wurzeln des Wertequadrats 

Nikomachische Ethik des Aristoteles 
 

Das Wertequadrat hat seine Wurzeln in der Ethik des Aristoteles, der die Tugend als die Balance zwischen zwei Extremen definiert hat. So ist zum Beispiel der Mut als Tugend angesiedelt zwischen dem Laster der Tollkühnheit und dem Laster der Feigheit. Das heisst, das Laster oder die Untugend ergibt sich aus einem Mangel oder der Übertreibung. So schreibt Aristoteles:
"Wer alles flieht und fürchtet und nirgends standhält, wird feige, wer aber nichts fürchtet und auf alles losgeht, wird tollkühn. Ebenso wird, wer jede Lust genießt und sich keiner Lust enthält, unmäßig, wer aber jede Lust meidet wie ein ungehobelter Bauer, wird unempfindlich."[1]
 

Diese Idee der Tugend, die sich aus der gelungenen Balance zweier Extreme ergibt, hat der Philosoph Nicolai Hartmann 1926 zur Urform des Wertequadrats weiterentwickelt und nannte sie noch Vierheit aller Wertebegriffe. Der Psychologe Paul Helwig griff dieses wichtige Konzept auf, stellte es erstmalig in seinem Buch Charakterologie 1936 vor und führte den Begriff des Wertequadrats in der letzten Ausgabe 1967 ein. [2]

Paul Helwig und Schulz von Thun 

Schulz von Thun hat das Wertequadrat von Paul Helwig und Nicolai Hartmann in seinem Buch "Miteinander Reden Teil II"[3] vorgestellt. Entsprechend dem Wertequadrat hat jede Tugend bzw. Stärke auch ihren Gegenwert bzw. ihre "Schwester-Tugend" und muss mit dieser entsprechend ausbalanciert werden, damit sie nicht pervertiert, d. h. übertrieben und zu einer Schwäche wird. So bilden sie ein positives Spannungsverhältnis. Wenn die Balance zu Lasten eines der beiden polaren Werte kippt, nennt das Schulz von Thun entwertende Übertreibung.
 

 


 

Die Logik des Wertequadrats lässt sich gut anhand des Autofahrens erläutern: Ein Auto ohne Bremse ist genau so wenig wert wie ein Auto ohne Gaspedal. Und die Kunst des Fahrens ergibt sich aus dem klugen Zusammenspiel von Gas und Bremse je nach Fahrziel, gegenwärtiger Verkehrssituation und Wetterlage. Die Kunst des Autofahrens kann also mit Hilfe des Wertequadrates folgendermaßen dargestellt werden -
etwa so:
 

 



oder auch so:
 

 



Das überraschend Neue, das sich aus dem gekonnten Zusammenspiel zweier komplementärer Werte ergibt, nennt Schulz von Thun "Regenbogenqualität", da der Regenbogen in seiner Schönheit aus dem Zusammenspiel zweier Wetterphänomene entsteht, die wir in unserer Wahrnehmung intuitiv als gegensätzlich erleben: Entweder es scheint die Sonne, oder es regnet - aber doch nicht beides gleichzeitig. Meistens. Und um so schöner, wenn es geschieht.
 

Neben der entwertenden Übertreibung gibt es nun noch ein weiteres Phänomen, das bei den meisten Konflikten zu beobachten ist und durch das Wertequadrat gut abgebildet werden kann: die gegenseitige Abwertung. Während ich von der Tugendhaftigkeit meines Verhaltens überzeugt bin, sehe ich meinen Konfliktpartner nur verzerrt durch die Brille meiner frustrierten Erwartungen (denen der andere unverschämterweise nicht entspricht). Ich sehe nur den Schatten seiner Tugend. Mit Schatten seiner Tugend meine ich hier die pervertierte Form eines Wertes. Im Beispiel des Autofahrens kommt vom Beifahrer vielleicht die Botschaft: "Schleich nicht so!" während vom Fahrersitz die Antwort kommt: "ich schleiche nicht, ich fahre vorsichtig! Mit Deinem Hang zum Rasen kommen wir schneller ins Krankenhaus als an unser Ziel!"
 

 




Wenden wir das Wertequadrat auf die beiden Bereichsleiter aus der Bank an, können wir die Werthaltungen der beiden Konfliktpartner (Diplomat und Freund klarer Worte) im Zusammenspiel so darstellen:
 

 


 

Wollen wir für eine konkrete Konfliktsituation ein Wertequadrat erstellen, so erschliesst sich uns der Inhalt der vier Eckfelder des Wertequadrats weniger aus theoretischen Überlegungen, sondern eher aus den subjektiven Wahrnehmungen der Konfliktpartner.
In meinen Seminaren zu professioneller Konfliktklärung, in denen die Teilnehmer anhand selbst erlebter Situationen ein Wertequadrat erstellen, erlebe ich häufig, dass die Vorstellung, es gäbe DIE EINE RICHTIGE Lösung für die Darstellung eines Wertequadrats, die Entwicklung eines passenden Wertequadrats verhindert. Es geht nicht um "richtig", sondern um eine "passende" Beschreibung der unterschiedlichen Wertvorstellungen, die den Konflikt verursacht oder zumindest verschärft haben. Es passt dann, wenn die Konfliktbeteiligten das Gefühl haben, dass das Wertequadrat ihren Wertekonflikt angemessen abbildet. Schön ist, wenn solch eine passende Darstellung die Konfliktpartner ermutigt, wieder wertschätzender über ihre Differenzen zu sprechen um miteinander einen Umgang zu finden, der den Wertvorstellungen beider Seiten gerecht wird. Wie die Erstellung eines situationsspezifischen Wertequadrats gelingen kann, erläutere ich weiter unten anhand eines Experiments in vier Schritten.
 

Ein guter Ausgangspunkt für die Entwicklung eines situationsspezifischen Wertequadrates sind die gegenseitigen Vorwürfe. Erstens sind sie meist unüberhörbar und zweitens ein wichtiger Wegweiser zu den Tugenden, die natürlich vom Kontrahenten nur als Laster wahrgenommen werden.
In unserem Beispiel aus der Bank warf der Freund klarer Worte dem Freund diplomatischer Umgangsformen vor, konturlos zu sein und im Versteckten zu agieren, während der Diplomat dem Freund klarer Worte vorwarf, rücksichtslos und unhöflich zu sein.
Diese gegenseitige Abwertung wirkt wie ein Tunnelblick, der nur noch das Positive der eigenen Werthaltung und das Negative der Werthaltung des anderen im Fokus hat. In der folgenden Grafik ist der Tunnelblick des Diplomaten dargestellt:
 

 


 

In gut funktionierenden (Arbeits-)Beziehungen finden wir dagegen eine gegenseitige Würdigung der unterschiedlichen Werthaltungen, deren Zusammenspiel als befruchtend, inspirierend, einander ergänzend und ausgleichend erlebt werden - kurz: die Menschen erleben ihre Unterschiedlichkeit als eine Bereicherung. Beispielsweise erlebt der Spontane die Strukturiertheit des Partners als unterstützend bei seinen Bemühungen, die eigene Impulsivität in gewissen Bahnen zu halten und der Strukturierte ist dankbar für die Spontaneität des anderen, die für ihn so belebend wie erfrischend ist:
 

 



Natürlich ist nicht auszuschließen, dass in einer besonderen Stresssituation diese würdevolle Balance auch einmal in die Schieflage geraten kann und plötzlich der bisher inspirierende Gegenpol des Anderen in seiner "pervertierten" Form gesehen wird:
 

 


 

In der Klärungshilfe bzw. Konfliktklärung ist es mir wichtig, die Konfliktpartner darin zu unterstützen, den Weg von einer gegenseitigen Abwertung zu einer gegenseitigen Würdigung ihrer komplementären Werthaltungen zu finden. Dazu muss ich in der Rolle des Klärungshelfers natürlich erst einmal selbst darin geübt sein, das Gute im "Bösen" zu sehen, d.h. in einer pervertiert anmutenden Werthaltung die Übertreibung eines an sich guten Wertes zu sehen. Gelingt dies, eröffnen sich Möglichkeiten des wertschätzenden Umgangs mit problematischen Verhaltensweisen, denn ich kann ...

  1. ... negativem Verhalten eine neue Bedeutung geben: Es wird für möglich gehalten, dass das kritikwürdige Verhalten lediglich die unangemessene Übertreibung eines Wertes ist, der als solcher nicht in Frage gestellt wird. Das macht es zum Beispiel leichter, Kritikgespräche zu führen: "Ich schätze sehr Ihren Sinn für Genauigkeit und Ihr Bestreben, fehlerfrei zu arbeiten, allerdings gibt es Situationen, in denen Ihr Bedürfnis, perfekte Texte abzuliefern, auf Kosten der Effizienz und Termintreue gehen. Deshalb wünsche ich mir, dass Sie den Wert der Pünktlichkeit bei aller Liebe zum Perfekten nicht vernachlässigen."
  2. ... in einem Coaching bei wahrgenommener Einseitigkeit aufzeigen, welche komplementären Werte entwickelt werden sollten, um die eigene Wirkung im Sinne der Lebensplanung zu erhöhen: "Bisher haben Sie sich sehr auf die Entwicklung Ihrer Fähigkeiten konzentriert, eigenständig leben und arbeiten zu können. Das ist auch eine starke Ressource, die Sie da aufgebaut haben, aber wenn Sie nicht auch in Kommunikation und Kontakt mehr Zeit investieren, werden Sie Gefahr laufen, in der Isolation zu landen und versäumen, ein Netzwerk aufzubauen, das Sie für Ihre Selbstständigkeit ebenso benötigen wie Ihre Fähigkeit zu autonomen Handeln." Die Einseitigkeit, die sich in der Entwicklung der Persönlichkeit entwickelt hat, kann also ebenso wie in einem Konflikt mit anderen Menschen als Tunnelblick abgebildet werden, der die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten einschränkt. Aufgabe des Beratenden ist, das bisher Ausgeblendete bzw. Vernachlässigte einzublenden. Auf dem Weg zur Integration des bisher Ausgeblendeten kommen mitunter latente Ängste zur Sprache: "Aber ich will mich doch nicht in Abhängigkeit begeben!":

 


 

 



Ein weiteres, für mich sehr eindrückliches Beispiel für die Anwendung der Logik des Wertequadrats im Coaching habe ich in meinem Essay Nr. 3 (Warum Nacktschnecken so selten nach dem Sinn des Lebens fragen) beschrieben.
 

Soweit die Theorie, nun zur Praxis. Ich lade zu einem Experiment ein.
 

Experiment: Erstellen eines situationsspezifischen Wertequadrats in vier Schritten 

Überlegen Sie für sich alleine oder tauschen Sie sich mit Menschen Ihres Vertrauens über einen Konflikt aus, der Sie immer noch beschäftigt. Versuchen Sie alleine oder mit Unterstützung ihres Gesprächspartners, ein Wertequadrat für diese Situation zu erstellen. Häufig mache ich die Erfahrung, dass die Erstellung eines solchen Wertequadrates in folgender Reihenfolge geschieht:
 

 

 

  1. Zunächst ist uns sehr bewusst, was uns am Herzen liegt und zu kurz kommt, welcher Wert verletzt und durch uns verteidigt werden muss. Dies ist die positive Ausprägung einer Tugend. (1)
  2. Als nächstes können wir - sofern der Konflikt genügend stark ist - relativ schnell sagen, wie unmöglich der Andere ist, oder zumindest, wo er / sie Verbesserungsbedarf hat und etwas viel zu wenig sieht / beachtet / berücksichtigt / vernachlässigt etc... (2)
  3. Die ersten beiden Punkte sind einfach. Nun kommt der schwierige Teil der Übung: Versuchen Sie, das Gute im "Bösen des Anderen" zu sehen, also die Frage zu beantworten, welchen Wert der andere versucht zu beherzigen, dabei aber dummerweise zuviel des Guten macht, also so übertreibt, dass es für Sie zu einem Problem wird. (3)
  4. In welche Untugend verwandelt sich unser Wert, für den wir die Fahne in dieser konflikthaften Situation hoch halten, wenn wir es übertreiben? Sollte diese Frage schwer beantwortbar sein, hilft manchmal auch ein imaginärer Perspektivwechsel: Was würde der andere uns vorwerfen, wenn wir ihn fragen würden? (4)

 

Ziel dieser Übung ist, sich mit der Logik des Wertequadrates vertraut zu machen. Ein zweites Ziel ist, durch die Ausformulierung des Wertequadrats etwas mehr Klarheit in die Dynamik des aktuellen Konfliktes zu bringen und zu sehen, wie man sich durch das Konfliktgeschehen (z.B. gegenseitige Vorwürfe) bereits gegenseitig in polarisierte und abwertende Streitgespräche hineinmanövriert hat. Ist etwas klarer geworden, bietet sich eine neue Entscheidung an: Wollen wir einfach so weitermachen, oder kann ich durch wertschätzende Anerkennung des "Guten" ( = Wert ) die negativen Konsequenzen, die das Verhalten des anderen für mich hat, so ansprechen ( = zuviel des Guten!), dass wir uns wieder konstruktiv annähern und miteinander eine neue Form des Umgangs finden können.

Soviel zum Experiment.

Übrigens - Sofern Sie bei diesem Experiment fündig geworden sind, würde ich mich über die Zusendung Ihres persönlichen Wertequadrats freuen: https://sein-und-wirken.ch/Kontakt
 

Die Integration der Gegensätze 

Professor Schulz von Thun sagt in seiner Abschiedsvorlesung, die er in im Oktober 2009 in Hamburg gehalten hat: 
 

"Die Integration der Gegensätze ist das Geheimnis des Erfolgs - das macht persönliche Entwicklung aus."[4]

Ich bin der Überzeugung, dass die Integration der Gegensätze darüber hinaus auch ein wichtiger Schlüssel für mehr Frieden auf der Welt ist.
 

Was bedeutet "Integration der Gegensätze?"

Integration der Gegensätze bedeutet, dass neben dem Anerkennen des Guten im Anderen, auch wenn es uns in seiner Übertreibung erst einmal als schlecht, schrecklich oder gar verabscheuungswürdig erscheint, noch eine weitere Aufgabe auf uns wartet - sofern wir mehr Frieden finden und mehr Kraft gewinnen wollen: Die Aufgabe, jene Werte in uns selbst zu entdecken, die den Gegenpol zu unseren liebgewonnenen Werten darstellen und die wir vielleicht erst einmal nur im Anderen wahrnehmen. Was ich damit meine, lässt sich anhand eines klassischen Beispiels gut erläutern:
 

 



Ich nehme jemanden als geizig wahr (schlecht!) während ich mich als grosszügig erlebe (gut!). Was ist das Gute im Geiz? Was wird im Geiz übertrieben? Die Sparsamkeit. Wo erlaube ich mir sparsam zu sein, trotz meiner Grosszügigkeit? Kann ich beim Geldausgeben auf die Bremse treten, wo andere noch Gas geben? Verbiete ich mir, sparsam zu sein, vielleicht aus Angst, geizig zu erscheinen? Wenn ich Sparsamkeit tabuisiere, werde ich verführbar, verschwenderisch zu sein und laufe Gefahr, ausgenutzt zu werden.

Wenn ich mit beiden Werten (Grosszügigkeit und Sparsamkeit) in ihrem positiven Spannungsverhältnis verbunden bin, d.h. mir beides wichtig ist, erwächst mir daraus persönliche Kraft, denn ich kann mich flexibel an die Erfordernisse verschiedener Situationen anpassen und bin auch entspannter, wenn ich einem Menschen begegne, der es nun aber wirklich mit einem der Werte, die ich in mir auch kenne, übertreibt:
 

 

[5]

Es lohnt sich, zwischen Verhalten und den Werten einer Person zu differenzieren, d.h. das zu Verhalten kritisieren und die Person mit ihren Werten trotzdem zu würdigen, weil sie sich dadurch mit geringerer Wahrscheinlichkeit in ihrem (Selbst-)Wert angegriffen fühlt und eher bereit ist, ihr Verhalten zu hinterfragen.
 

Grenzen 
 

Wo liegen die Grenzen der Anwendung des Wertequadrats? Ich weiss es nicht. Sie verschieben sich für mich immer wieder, wenn ich glaube, sie entdeckt zu haben. Zum Beispiel vor kurzem. Da sagte ich in einer Diskussion in einem Seminar, dass es mir schwer fällt, die Perspektive auf das Gute im Bösen noch aufrechtzuerhalten, wenn ich auf das schaue, was derzeit in Syrien geschieht. Da sagte einer der Teilnehmer: "Wieso? Ist doch ganz einfach. Da versucht jemand nur, Ordnung und Stabilität aufrechtzuerhalten. Aber er tut es mit menschenverachtenden Mitteln und geht dafür über unzählige Leichen".
 

Stimmt. Und doch ist mir manches so zuwider, dass ich schlichtweg keine Lust habe, mir zu all dem Greuel, zu dem Menschen fähig sind, auch noch ein differenzierendes Wertequadrat auszudenken. Diese Unlust hat doch auch ihren Wert, oder?

Ingo Heyn

September 2012

 

P.S: Ergebnis der Konfliktklärung in der Bank: Nachdem die Bereichsleiter einen Weg gefunden hatten, trotz ihrer unterschiedlichen Kommunikationsstile wieder Wesentliches miteinander zu besprechen, konnten sie gemeinsam abgestimmte Massnahmen initiieren, die den Weg zum eigentlichen Brandherd des Konfliktes frei machten. Sie luden sich gegenseitig zu vertraulichen Gesprächen mit den Mitarbeitern des eigenen Bereichs ein, um nicht nur auf Berichte aus dem eigenen "Lager" angewiesen zu sein. Daraufhin befürworteten sie Interviews mit den Projektbeteiligten. Auf diesem Weg wurde bald deutlich, dass eine Führungskraft mit der Komplexität des Projektes überfordert war, dies inzwischen selbst so sehen konnte und aufgrund ihrer Einsicht die Konsequenzen zog. Dieser Schritt entspannte ganz wesentlich die Situation.

Klärungshilfe verspricht nicht harmonisches Miteinander, sondern lediglich mehr Klarheit.
Es gibt Konfliktsituationen, in denen die Klarheit wieder zu einem guten Miteinander führt und es gibt Situationen, in denen Klarheit den würdevollen Abschied ermöglicht. Siehe hierzu auch: Wahrheit heilt - oder: Was ist Klärungshilfe .





 

Literatur 
 

  • Pörksen, Bernhard; Schulz von Thun, Friedemann: Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik. Hanser Verlag, 2020.
  • Schulz von Thun, F.: Miteinander reden 2, Reinbek b. Hamburg, 1. Aufl. 1989
  • weiterführende Literatur:
    Stavros, Jacqueline M. Stavros & Torres, Cheri: Conversations worth having. 2018

 

 

 

 Fussnoten 


 

  1. Wikipedia: Nikomachische Ethik
     
  2. siehe hierzu den interessanten Beitrag zur Geschichte des Wertequadrats: Schulz von Thun, F.: Von wem stammt das Werte- und Entwicklungsquadrat?
     
  3. Thomann, Christoph; Schulz von Thun, F.: Klärungshilfe 2: Konfliktklärung im Beruf: Methoden und Modelle klärender Gespräche, 2004
     
  4. Video-Mitschnitt der Abschiedsvorlesung von Schulz von Thun
     
  5. Bildnachweis: Der Umriss eines Menschen, den ich in der von mir angerfertigten Grafik verwendet habe, ist von Andrea Prock gezeichnet worden und unterliegt den Creative Commons, Quelle: http://bilder.tibs.at/index.php