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Das Zentrum: Die Stille




"Wenn der Mensch zur Ruhe gekommen ist, dann wirkt er."

Francesco Petrarca

 

 


 


 

Die Stille ist die Quelle der Intuition und Inspiration, sie entzieht sich unserer Kontrolle. Menschen können nur in dem Maße die Kraft ihrer Intuition und Inspiration nutzen, im dem sie sich einigermaßen furchtlos dem Irrationalen und Unbekannten anvertrauen und sich von ihm berühren lassen können. Jemandem, der sein Glück in der Kontrolle seiner selbst und seiner Mitmenschen sucht, bleibt diese Kraft der Stille verwehrt.

 

Je mehr wir verdrängte Gefühle wieder bewusst zulassen und integrieren können, desto mehr wächst das uns zur Verfügung stehende Kraftpotential. Je mehr wir wieder bereit sind zu fühlen, desto mehr weitet sich der Zugang zu unserem innersten Kern, der eigentlich das Tor in eine spirituelle Dimension ist. Jeder, dem es gelingt, durch dieses Tor zu schreiten, kann in einen unpersönlichen Raum der Stille kommen, aber nur in dem Maße, in dem er selbst still geworden ist.

 

Mit "still sein" ist nicht gemeint, dass wir einfach den Mund halten oder körperlich erstarren, sondern dass es uns gelingt - wenn auch nur für eine begrenzte Zeit - allen persönlichen Ängsten und Sehnsüchten standzuhalten und einfach uns und die Welt wahrzunehmen. Es ist einfaches Sein.

 

Unsere Mitte ist wie das Auge eines Sturms, um das unsere ruhelosen Sehnsüchte und Ängste toben. Aus unserem Ruhen in dieser Mitte schöpfen wir tiefe Inspiration und Intuition. In dieser Mitte kommen wir in Kontakt mit der göttlichen schöpferischen Kraft. Jeder Mensch kann nur ganz allein in das Auge seines eigenen inneren Sturms gehen, niemand kann ihn dorthin begleiten, es können ihm allenfalls Fingerzeige gegeben werden, in welcher Richtung er dieses Zentrum in sich selbst finden kann. Das Paradoxe ist, dass wir uns aber erst in diesem Zustand, in den wir nur ganz alleine gehen können, mit der Welt verbinden können. Das ist gemeint mit "All eins Sein (allein)" - oder "All One (alone)".

 

Der Preis für die Verbindung mit dieser Quelle der Kraft und Inspiration ist, alle Hoffnungen, Ansprüche, Befürchtungen und alle Erwartungen einfach sein zu lassen, d. h. auch nicht gegen sie anzukämpfen, wenn sie auftauchen, sondern sie wie Wolken am Himmel wahrzunehmen und wieder ziehen zu lassen. Jede Hoffnung, jedes Wollen, jede Befürchtung, jede Regung, mit der wir uns identifizieren, zieht uns schon wieder aus diesem Zentrum der Stille.
 

Diese Stille bedeutet nicht unbedingt meditatives Nichtstun. Wenn wir hier von der unpersönlichen schöpferischen Kraft erfasst werden, dienen wir als Kanal für das Schöpferische und geben ihm lediglich mit unseren individuellen Begabungen und Fähigkeiten persönlichen Ausdruck. Rainer Maria Rilke hat das Erschaffen seiner Werke als solch einen Prozess erlebt - um nur ein Beispiel zu nennen:
 


Doch wie ich mich auch in mich selber neige:
Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe
von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.
Nur, daß ich mich aus seiner Wärme hebe,
mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweige
tief unten ruhn und nur im Winde winken.

(Rainer Maria Rilke, "Das Stunden-Buch", 1899)
 

 



Dieses Phänomen beschränkt sich jedoch keineswegs auf den Bereich der Kunst. Die schöpferische Kraft kann sich genauso gut in einer wissenschaftlichen oder technischen Leistung oder in sozialem und politischen Engagement (z. B. Mahatma Ghandi) ausdrücken. Menschen, die so etwas erleben, empfinden diese Kreativität als Gnade und nicht als persönliche Leistung. Menschen, die dies erkennen, zeichnen sich durch eine auffallende Bescheidenheit aus.
 

Im Zentrum der Stille ruhen bedeutet in diesem Sinne: in Kontakt sein mit der Kraft, die uns erlaubt, uns in tiefe meditative Versenkung zu begeben und kraftvoll die Welt zu gestalten.

Auf dieser Ebene findet der schöpferische Dialog statt, den C. Otto Scharmer in seinem Modell der vier Ebenen der Aufmerksamkeit "Presencing" nennt.

Siehe eine Darstellung dieses Modells hier:

Sinn. Auf der Suche nach dem verlorenen 'Wozu'

 


 

Literatur 
 

  • Herrigel, E., Zen in der Kunst des Bogenschiessens, Der Zen Weg, Fischer Taschenbuch Verlag, 4. Auflage, Frankfurt, 2009
  • Jaworski, Joseph: Source. The Inner Path of Knowledge Creation. Oakland, 2012.
  • Scharmer, O., Theory U - Leading from the Future as It Emerges - The Social Technology of Presencing, Berrett-Koehler Publishers, San Francisco, 2009
  • Senge, P; Scharmer, O.; Jaworski, J.; Flowers, B.; Presence - Exploring profound Change in People, Organizations and Society,Nicholas Brealey Publishing, London, 2008
  • Suzuki, Daisetz T.: Die grosse Befreiung - Einführung in den Zen-Buddhismus; Otto Wilhelm Barth Verlag, 1984


 

 


 

Weblinks 
 

  • Der schottische Künstler Andy Goldsworthy, der für seine faszinierenden Arbeiten mit Naturmaterialien weltweit bekannt ist, zeigt in dem Dokumentarfilm "Rivers and Tides" auf beeidruckende Weise, welch schöpferische Kraft dem Künstler im stillen Sein zufliessen kann:
    Wikipedia: Rivers and Tides - Andy Goldsworthy Working With Time