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Spiral Dynamics - die Entwicklung von Wertesystemen

 



In diesem Artikel erläutere ich nach einer Einführung die experimentellen Studien, die Clare Graves zur Formulierung seiner Theorie führten. Danach stelle ich die einzelnen Ebenen der Wertesysteme vor. In meinem neuen Essay erläutere ich das Modell mit einem etwas anderen Fokus und beschreibe die jeweiligen Qualitäten einer jeden Ebene, wenn sie als dominantes Wertesystem erfolgreich transzendiert wurde und nun auf den komplexeren Ebenen eine unverzichtbare dienende Funktion übernehmen:

Die Farben unserer Werte im Licht von Spiral Dynamics
 

Inhaltsverzeichnis


1. Einführung 

2. Inspiration für die Durchführung der Studien von Clare Graves

3. Design der Studien: Seine Studien bestehen aus vier Phasen

4. Erklärungsbedürftige Phänomene in den Daten der Studie

5. Wesentliche Aussagen des Modells von Clare Graves

6. Die acht Ebenen des Modells von Clare Graves im Überblick

6.1. Ebene: beige (AN, Beginn 1. Ordnung) - Der individuelle Überlebenskampf

6.2. Ebene: lila (BO) - die Stammesgemeinschaft mit einem magisch-mystischen Weltbild

6.3. Ebene: rot (CP) - Rohe Gewalt, Kampf um begrenzte Ressourcen, Leidenschaft: Das Gesetz des Stärkeren

6.4. Ebene: blau (DQ) Glaube an eine absolute Wahrheit.

6.5. Ebene: orange (ER) Wettbewerb und persönlicher Erfolg

6.6. Ebene: grün (FS) Soziale Orientierung ist wichtiger als Behauptung des Selbst

6.7. Ebene: gelb (A'N', Beginn 2. Ordnung) - Selbstverwirklichung, aber nicht auf Kosten anderer

6.8. Ebene: türkis (B'O') Demut und Akzeptieren der Grenzen des begreifenden Verstandes

7. Das Modell mit den wesentlichen Dimensionen im Überblick

8. Was sind Meme?

9. Was sind WMeme?

10. Sechs Voraussetzungen für die Entwicklung auf eine nächste Ebene

11. Fünf Phasen der Transformation

12. Verbindungen zum Modell "Phasen der Entwicklung nach Lewin/Satir"

13. Literatur 

14. Weblinks

 

 

Einführung 
 

Wenn Menschen sich Ziele setzen und sich dann auf den Weg machen, um diese zu erreichen, dann tun sie es meist aufgrund von Wertentscheidungen, die mehr oder weniger bewusst sein können. Die Entscheidung, in einem bestimmten Restaurant zu Abend zu essen, mag durch das physiologische Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme in die Wege geleitet worden sein, aber wenn es nur das wäre, könnte der Weg zum Kühlschrank die effizientere und sparsamere Lösung sein. Wie wichtig ist Ambiente und eine bestimmte Qualität der Speise? Will ich der Person, die ich eingeladen habe, mich zu begleiten, mit der Wahl des Restaurants gleichzeitig bestimmte Botschaften über meinen Lebensstil vermitteln? Will ich zeigen, was ich mir alles leisten kann? Dass ich guten Geschmack habe? Oder geht es mir einfach um einen ruhigen gemütlichen Ort mit angenehmen Menschen? Oder will ich dem Inhaber des Restaurants einen Gefallen tun, da ich mit ihm befreundet bin und erfahren habe, dass er derzeit wirtschaftlich etwas klamm ist und froh ist um jeden Kunden?
 

Diese Fragen zeigen, wie oft wir uns in unserem alltäglichen Handeln durch unsere persönlichen Werte leiten lassen, ohne dass wir bewusst sagen: "Heute treffe ich eine Wertentscheidung." Wenn Menschen zusammenfinden, um gemeinsam ein Ziel zu erreichen, spielen Wertentscheidungen ebenfalls eine grosse Rolle. Meist sind solche Ziele vom Team, von ihrer Chefin oder von der Geschäftsleitung aufgrund strategischer und geschäftspolitischer Entscheidungen definiert worden, und diesen wiederum liegen wie beim erwähnten Restaurantbesuch Wertentscheidungen zugrunde (zum Beispiel: "die Profitmaximierung, die Expansion, die Konsolidierung der erreichten Position auf dem Markt, die Sicherstellung, dass unsere Produkte nicht durch Kinderarbeit entstanden sind, etc. ist uns sehr wichtig!"). Es ist nützlich, sich der Werte bewusst zu sein, aus denen sich ein gegebenes Ziel ableitet, wenn wir uns hier der Frage widmen, wie es gelingen kann, kraftvoll miteinander auf ein Ziel hin zu arbeiten, denn das zur Verfügung stehende Kraftpotential ist dann am grössten, wenn die Menschen, die zusammenarbeiten sollen, nicht nur das Ziel verstanden haben, sondern von ihnen auch als eine Gelegenheit wahrgenommen wird, persönliche Werte zu realisieren. Ein Mensch, für den Profitmaximierung eine Quelle persönlicher Befriedigung darstellt, wird sich schwer tun, sich für die Einhaltung der Bestimmungen zur Verhinderung von Kinderarbeit in den ausgelagerten Produktionsstätten zu begeistern, wenn dies nicht auch einen persönlichen Wert für ihn darstellt.
 

Persönliche Wertvorstellungen werden nicht nur in dem "Was" zum Ausdruck gebracht (zum Beispiel: mir ist feines Essen sehr wichtig und deshalb gehe ich in ein Gourmet-Restaurant) sondern zeigen sich auch in der Art, wie ich etwas tue. So mag Herr Müller einfach für sich entscheiden und verkünden: "wir gehen heute in ein Gourmet-Restaurant, und zwar zum "Fröhlichen Kaviar". Ich habe dort für acht Uhr einen Tisch bestellt." während Herr Meier fragt: "Was hältst du davon, heute in ein Gourmet Restaurant zu gehen, ich hätte da auch schon eine Idee?". Das "Was" ist in beiden Fällen identisch, das "Wie" sehr unterschiedlich. Letzteres kann als Hinweis auf die vorherrschende Beziehungskultur interpretiert werden (zum Beispiel anweisend / bestimmend versus konsensorientiert). Welche Kultur der Kommunikation und Zusammenarbeit in Teams und Unternehmen vorherrscht, hat einen enormen Einfluss auf das Potential, bestimmte Ziele zu erreichen.
 

Wenn ein Team die Aufgabe hat, ein Ziel zu erreichen, ergibt sich aus den bisherigen Überlegungen, dass man zur Maximierung des Potentials der Gruppe auf folgendes achten muss:

  1. die allgemeine Kultur der Kommunikation und Zusammenarbeit im Unternehmen bzw. Team
  2. die bevorzugte Kultur der Kommunikation und Zusammenarbeit der einzelnen Teammitglieder
  3. das Ziel, für dessen optimale Erreichung eine bestimmte Kultur der Zusammenarbeit und Koordination erforderlich ist.

Beispiel:
Bei einem Team, das im Katastrophenschutz tätig ist, ist eine klare Hierarchie mit eindeutigen Befehlswegen, einer kurzen knappen Befehlserteilung ("Besorge einen Bagger. Ich erwarte, dass um drei die Strasse frei geräumt ist.") ein absolut wichtiges Erfolgskriterium. In einem Team mit kreativen Individualisten, die die Aufgabe haben, quer zu denken, verrücktes auszuprobieren und überraschende innovative Produktideen zu liefern, wäre solch eine Kultur hingegen fatal. Solch ein Team braucht viel Freiheit hinsichtlich Zeit, Ort und Raum - kurz: viel Freiheit, sich selbst zu organisieren, damit es auch mit neuen Ideen aufwarten kann.

Clare Graves hat ein Modell der Entwicklung menschlicher Wertesysteme formuliert, das recht nützlich ist, wenn man daran interessiert ist, eine optimale Passung folgender Parameter zu ermöglichen:

  1. Die Werte, die durch die gewünschte Zielerreichung realisiert / materialisiert werden (im Globe-Modell: ES, das Ziel )
  2. Die individuellen Wertsysteme jener Menschen, die für die Zielerreichung eingesetzt werden (im Globe-Modell: ICH, die einzelne Person)
  3. Die etablierte Führungs- und Kommunikationskultur im Unternehmen und Team (im Globe-Modell: WIR, die Gruppe)

 


Dieses Modell wurde in den sechziger und siebziger Jahren aus der Taufe gehoben, und zwar von Clare W. Graves, einem Psychologieprofessor am Union College in Schenectady, New York. Er taufte es auf den Namen
 

"The Emergent Cyclical Double Helix Model of Adult Personality and Cultural Institutions" - ein Titel, der zwar sehr schlüssig und konsequent erscheint, wenn man sich mit seinem Modell näher befasst hat, aber leider - was das Marketing angeht - nicht so günstig gewählt ist, weil er doch auf Anhieb etwas schwer zu merken ist. Außerdem klingt es für manche Menschen mehr nach Kopfgeburt als dem neuesten Schrei einer lang ersehnten Theorie, die endlich das Licht der Welt erblickt hat, um seinerseits etwas Licht in das komplexe menschliche Verhalten und seine Hintergründe zu werfen. Don Beck und Christopher Cowan ist es zu verdanken, dass sie sich noch zu Lebzeiten von Clare Graves mit seinem Lebenswerk vertraut machten und sein enormes Potential erkannten. Sie gaben dem Modell von Clare Graves einen eingängigeren Namen ("Spiral Dynamics") und schrieben ein gleichnamiges Buch dazu, in dem das Modell auf spannende Weise erläutert wird. Dieses Buch und natürlich auch die Arbeit von Cowan und Beck in Form erfolgreicher Beratungsprojekte, in denen das Modell angewendet wurde, sowie zahlreiche Vorträge trugen dazu bei, das beinah in Vergessenheit geratene Vermächtnis von Clare Graves zu popularisieren und so über akademische Kreise hinaus bekannt zu machen.
 

Zweifelsohne haben Beck und Cowan durch ihren wertvollen Beitrag das Modell anwenderfreundlicher formuliert. So vereinfacht beispielsweise die farbliche Codierung der acht verschiedenen Wertesysteme die Anwendung des Modells. Darüber hinaus haben sie mit dem Konzept der so genannten WMeme, das auf Richard Dawkins Arbeit zurückgeht, mit dem Modell von Graves kombiniert und es auf diese Weise sinnvoll weiterentwickelt. Was unter WMemen zu verstehen ist, wird in einem späteren Abschnitt dieses Textes erläutert.
 

Allerdings empfehle ich, sich mit den Wurzeln des Modells "Spiral Dynamics" vertraut zu machen, um verstehen und nachvollziehen zu können, wie Graves in über fünfundzwanzig Jahren allmählich sein Modell aus den Daten seiner Studien wie ein geistiger Bildhauer herausmeißelte. In den Originaltexten von Graves, die dank Cowan und Torodovic in dem sehr zu empfehlenden Buch "The Never Ending Quest" veröffentlicht worden sind, wird eine ganz andere Tiefe, Differenziertheit und Sorgfalt in der Erklärung dieses Modells deutlich, die ich in dem teilweise etwas reisserisch anmutenden Buch "Spiral Dynamics" von Beck und Cowan vermisse.
 

 

Aus diesem Grund beschreibe ich im Folgenden zunächst, wie Clare Graves sein Modell entwickelte und stelle danach die acht Ebenen seines Modells vor.
 

Inspiration für die Durchführung der Studien von Clare Graves

In seiner Funktion als Psychologieprofessor hatte Graves unter anderem die Aufgabe, seine Studenten in Persönlichkeitspsychologie zu unterrichten. Dazu gehörte, sie mit den verschiedenen Persönlichkeitstheorien vertraut zu machen, die in der damaligen Zeit der sechziger Jahre grob gesprochen jeweils einer von drei Hauptströmungen der Persönlichkeitspsychologie zugeordnet werden konnten:

  1. Psychoanalytische Theorien, als deren geistiger Urvater Sigmund Freud gilt. Später kamen C. G. Jung, Karen Horney und viele andere dazu.
  2. Lerntheoretische (behavioristische) Konzepte, die ihre Wurzeln in der strengen empirischen Forschung von B. F. Skinner und Ivan Pavlow hatten
  3. Humanistische Theorien ("die dritte Kraft"), die den Menschen weder als ein triebgesteuertes Wesen (Psychoanalyse) noch als eine dressierbare biologische Lernmaschine (Behaviorismus) beschreiben, sondern als ein bewusstseinsbegabtes Wesen betrachten, das auf der Suche nach Sinn, Selbstverwirklichung und Transzendenz ist. (A. Maslow, C. Rogers, F. Perls)


Graves stellte in seinen Seminaren alle damals gängigen Theorien vor. Am Ende fragten ihn seine Studenten häufig: "Und? Welche Theorie ist denn die Richtige?" Graves hatte hierauf keine Antwort - ein Umstand, der ihn sehr unzufrieden und noch mehr nachdenklich machte. Er fragte sich, wie es sein konnte, dass Menschen, die allesamt nachweislich intelligent sind, so unterschiedliche Konzepte einer reifen Persönlichkeit entwickeln konnten. Jede der ausgefeilten und in sich durchaus nachvollziehbaren Theorien definierte eine gesunde reife Persönlichkeit auf andere Weise.

 

So begann Graves in einem Zeitraum von über neun Jahren Studien durchzuführen, in denen er seine Studenten jeweils zu Beginn eines Semesters bat, einen Aufsatz darüber zu schreiben, was ihrer Meinung nach eine reife Persönlichkeit charakterisiert.
 

Design der Studien: Seine Studien bestehen aus vier Phasen
 

Phase 1:

  1. Schreiben des Aufsatzes: Was charakterisiert eine reife Persönlichkeit? (4 Wochen)
  2. Diskussion und Verteidigung des eigenen Standpunktes in Peer-Gruppen (4 Wochen)
  3. Schreiben eines revidierten Aufsatzes zum selben Thema, in dem entweder evt. Änderungen des eigenen Standpunktes oder der alte Standpunkt aufgrund gehörter Argumente verteidigt wird. (2 Wochen)
  4. Gemeinsames Studium der einschlägigen Literatur zum Thema Reife und Persönlichkeitsentwicklung mit anderen Teilnehmern des Seminars ("Peers").
  5. Schreiben eines erneut revidierten Aufsatzes.



Auswertbare Daten der Phase 1:

  1. Geäußerte Standpunkte / Glaubenssätze / Begründungen
  2. Die Reaktion auf die Meinung von Peers in Form des revidierten Aufsatzes
  3. Verhaltensbeobachtungen bzgl. der Meinung von Peers durch den Einwegspiegel
  4. Die Reaktion auf die Meinung von Autoritäten in Form des 2. revidierten Aufsatzes
  5. Verhaltensbeobachtungen bzgl. Konfrontation mit der Meinung von Autoritäten durch den Einwegspiegel

 

Phase 2
Unabhängige Assessoren werten die Aufsätze aus und können 60% der Aufsätze einwandfrei und mit hoher Zuverlässigkeit unterschiedlichen Kategorien zuordnen
 

Phase 3
Beobachtung des Problemlöseverhaltens in Gruppen, die bzgl. ihrer Vorstellungen, was eine reife Persönlichkeit ausmacht, homogen waren.
Durchführung verschiedener psychologischer Testverfahren (Intelligenztests, Werte, Dominanz, etc..)
 

Phase 4
Auswertung und Analyse der Daten, Studium der Fachliteratur
Entwicklung des Modells als Erklärung für die erhobenen Daten und die sich darin abzeichnenden Phänomene.


Graves nennt sein Modell:  

"The Emergent Cyclical Double Helix Model of Adult Personality and Cultural Institutions"
 

 


Beck und Cowan nennen es kurz: Spiral Dynamics  

Erklärungsbedürftige Phänomene in den Daten der Studie

  • Die Konzepte einer reifen Persönlichkeit unterscheiden sich wesentlich hinsichtlich folgender Dimensionen:
    • Rigidität und Dogmatismus hin zu mehr Offenheit
    • Autistisches Denken über absolutistisches Denken hin zu relativistischem Denken
    • Freiheit und Originalität im Denken führt zu mehr Quantität und Qualität in der Lösung von Problemen
  • Die Daten passen aus verschiedenen Gründen nicht in das Modell von Maslow:
    • Maslow's Modell hat nur fünf Ebenen, die Daten deuteten aber auf die Existenz von mindestens acht Ebenen hin
    • Maslows Themen auf den von ihm postulierten fünf Ebenen tauchen auf den unterschiedlichen Ebenen in anderer Reihenfolge oder wiederkehrend auf (z. B. das Bedürfnis, dazuzugehören)
    • Es gibt Ebenen der Reife, die über die von Maslow postulierte Stufe der Selbstverwirklichung hinausgehen

 

 
  • Die Konzepte "Was ist eine reife Persönlichkeit?" entwickeln sich zyklisch und nicht linear (Pendelbewegung zwischen Selbststeuerung und Steuerung durch eine äussere Referenz (Gott, Autorität, Gruppe, Tao etc. )

 

 

Wesentliche Aussagen des Modells von Clare Graves

  1. Entwicklung ist die Folge der Wechselwirkung zwischen Umwelt und Organismus.
  2. Die Umweltbedingungen nennt er "conditions of Existence"
  3. Die biologischen Voraussetzungen des Organismus nennt er "conditions for Existence"
  4. Die Umweltbedingungen codiert er mit den Buchstaben A, B, C, D, E, F und weiter mit A', B', ... (Warum nach sechs Ebenen die selben Buchstaben in apostrophierter Form verwendet werden, wird später erläutert). Aus diesen Umweltbedingungen ergeben sich bestimmte Existenzprobleme, die der Organismus lösen muss, um überleben zu können.
  5. In seinem Modell geht er davon aus, dass es für jede Klasse / Kategorie von Umweltbedingungen biologisch-psychische Bewältigungsmechanismen gibt, die für die Bewältigung der Existenz dieser Umweltbedingungen optimal sind, bzw. ausreichen. Diese biologisch-psychischen Bedingungen des Organismus codiert er mit den Buchstaben: N, O, P, Q, R, S, und dann N', O', ....
  6. Eine Ebene der Existenz ist definiert durch ein bestimmtes Set von Umweltbedingungen, für die bestimmte "ausgereifte" bio-psychische Bewältigungsmechanismen optimal sind.
  7. Aufgrund seiner empirischen Studien geht er in seinem Modell von bisher 8 Ebenen aus. Diese nennt er: AN, BO, CP, DQ, ER, FS, A'N', B'O' .... Der erste Buchstabe steht jeweils für die Umweltbedingungen, der zweite für die Bewältigungsmechanismen des Organismus. (Diese Stufen haben Beck und Cowan farblich codiert, um die Kommunikation zu vereinfachen).
  8. Entwicklung ist nicht linear sondern erfolgt in zyklischen Mustern. Es ist ein Pendeln zwischen Innensteuerung (Selbstausdruck) und Aussensteuerung (Orientierung an äusserer Autorität, Macht, Referenzgruppe, Umwelt).
  9. Die Spirale ergibt sich aus dieser Pendelbewegung, die bei jedem "Zurückschwingen" zum jeweils anderen Pol sich gleichzeitig auf eine nächst höhere Ebene hinaufschwingt.
  10. Die Abfolge der Ebenen folgt einer Gesetzmässigkeit, ist also gegeben und nicht zufällig
  11. Die Bewegung in der Vertikalen ist nicht zwingend aufwärts - d. h. progressiv - , sondern kann auch regressiv sein oder zu einer Verhärtung / Fixierung auf einer Ebene führen (Blockierung).
  12. Zentraler Motor für die Entwicklung ist ...
    1. ... die frei verfügbare Energie, freigesetzt durch die Lösung sogenannter Existenzprobleme, die für jede Ebene spezifisch sind.
    2. ...Veränderungen in der Umwelt, unter anderem verursacht durch den Menschen, die eine Krise heraufbeschwören, die nicht mehr mit den bisherigen Fähigkeiten und Bewusstseinshorizont gemeistert werden kann.
  13. Es gibt nicht den einen absolut optimalen Reifezustand: Was eine optimale Reife ist, hängt immer von dem Individuum und der speziellen Umwelt ab, in der es lebt und der Entwicklungsstufe, auf der es sich gerade befindet.
  14. Das Modell ist nach oben hin offen, d. h. Graves ist davon überzeugt, dass die Menschheit auf einer theoretisch niemals endenden Spirale sich immer weiter in diesem zyklischen Muster entwickeln wird.
  15. Die Stufen gliedern sich in eine Abfolge von jeweils sechs Ebenen, d.h. auf der siebten Ebene wiederholt sich das Thema der ersten Stufe, jedoch auf einer ganz anderen Komplexitätsstufe. Beispiel: Auf der ersten Ebene (Beige, AN) geht es um das Überleben des Organismus. Auf der siebten Ebene (gelb, A'N') ist das Überleben der Menschheit ins Bewusstsein gerückt und bestimmt zunehmend das Handeln der Menschen, die auf dieser Ebene sind.
  16. Es ist keine Typen-Lehre, sondern beschreibt "biopsychosoziale" Formen der Organisation, die alle in ihrer "gesunden Form" notwendige und wertvolle Schritte in der Menschwerdung sind, jedoch auch pathologische bzw. destruktive Formen annehmen können.
 

 

Die acht Ebenen des Modells von Clare Graves im Überblick
 


"Das Leben ist weder ein Fest, noch eine großartige Show.
Es ist eine ungelöste Situation."
George Santayana



"The sum of all man's days is just a beginning"
Lewis Mumford

 



 

 

 

 

Ebene: beige (AN, Beginn 1. Ordnung) - Der individuelle Überlebenskampf

Schwerpunkt: Überleben als Organismus und Fortpflanzung, Aufrechterhaltung physiologischer Stabilität
Autistische Selbstbezogenheit. Kaum Wahrnehmung der Umwelt. Es geht um das unmittelbare Reagieren auf Stimuli (Reize) mit dem Ziel zu überleben. Menschen leben in einer eher losen, unstruktierten Horde, Clan, Gruppe.

Charakter der Existenz: ("automatic", "archaic") Reflexhafte Reaktion auf Stimuli. Kein planvolles, überlegtes Handeln. Transzendentale ehtische bzw. moralische Werte spielen keine Rolle. Es geht ums nackte Überleben. Abwesenheit von Mitgefühl.

Angst: keine Luft zu bekommen, keine Nahrung zu finden, zu sterben.

Vorhanden seit: ca 60 000 Jahren

Auslösende Bedingungen für eine Krise:
Verknappung der Ressourcen, die eine erste rudimentäre Zusammenarbeit mit anderen Individuen erforderlich macht (gemeinsam sind wir stark).
 

Beispiel: Bergvolk der IK im Nordosten Ugandas (um 1980), Inuit im Nordosten Kanadas, sie waren zwar als Clan organisiert, aber die Nahrung wurde kalkuliert und wenn es nicht genug für alle gab, mussten die Grosseltern sterben, um den Nachwuchs nicht zu gefährden. In Ausnahmesituationen wie Katastrophen und Kriegen. Karl Jaspers erwähnt den Bericht eines Soldaten aus dem 1. Weltkrieg, der nach schwerem Beschuss an der Front nicht mehr zu intentionalem, willentlichen Handeln fähig war.
Es ist eine notwendige Phase in der Entwicklung eines jeden Menschen, wenn er als pflegebedürftiges Wesen auf die Welt kommt.: Ausgeliefert, hilflos, unmittelbarer Ausdruck seiner Bedürfnisse, noch nicht fähig zu Empathie (ich sehe, meine Mutter ist gerade etwas übernächtigt und erschöpft, ich warte jetzt mal mit Schreien, bis meine Mutter sich etwas erholt hat).

 

 

Ebene: lila (BO) - die Stammesgemeinschaft mit einem magisch-mystischen Weltbild

Schwerpunkt: Erreichen von Sicherheit und Geborgenheit
Das erwachende Gehirn nimmt viele Informationen auf, nimmt das Wirken von Kräften wahr, die es jedoch nicht verstehen, nicht einordnen, nicht vorhersagen kann und deshalb Angst erlebt. Das Bedürfnis nach Sicherheit, Geborgenheit, Aufgehobensein, Schutz vor diesen Kräften wird wach. In dem Versuch, den nicht verstehbaren Naturkräften und Geschehnissen (z. B. Krankheit) eine Bedeutung zu geben, entwickelt das menschliche Gehirn ein magisches Weltbild. (Z. B.: er ist krank, weil er von einem bösen Geist besessen ist, es gab ein Erdbeben, weil die Götter wütend auf uns sind). So wie das eigene rudimentäre Selbst nun Emotionen erlebt, so wird das eigene Erleben auch auf andere Objekte und Lebewesen übertragen. Der Berg, der Ort, der Baum haben eine Seele. Es entwickelt sich eine animistische Weltsicht.

Charakter der Existenz: ("Tribalistic"). Orientierung an überlieferter Tradition und Ehrung der Ahnen und Stammesältesten. Die Tatsache, dass sie erfolgreich leben und Nachwuchs in die Welt setzen konnten, zeigt, dass ihr Weg der Richtige ist.

Angst: keine Unterkunft, kein Revier, kein Dach über dem Kopf zu haben. Aggression wird nur gezeigt, wenn das eigene Revier verletzt wird, Tabus gebrochen, Besitz gefährdet wird.

Vorhanden seit: ca 40 000 Jahren

Auslösende Bedingungen für eine Krise:
Schwindende Angst, schwächer werdende Bande des Zusammenhalts und ein erwachendes Ego, eigene Erfahrungen, die sich mit den überlieferten Traditionen und Glaubenssätzen nicht vereinbaren lassen (Radio, TV, trotz Regentanz bleibt der Regen aus)
 

Beispiel: Naturvölker z. B. auf Papua Neuguinea
 

 

Ebene: rot (CP) - Rohe Gewalt, Kampf um begrenzte Ressourcen, Leidenschaft: Das Gesetz des Stärkeren

Schwerpunkt: Die Urkräfte des eigenen Individuums werden zum ersten Mal entdeckt. Es ist eine ursprüngliche Freude am Leben, am eigenen Körper. Impulsivität und die damit einhergehende Spontaneität werden gelebt und eine ursprüngliche ungebrochene Vitalität bricht sich Bahn. Aber auch: Jeder gegen jeden und Gott gegen alle. Heldentum. Ausbeutertum. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Jeder ist sich selbst der Nächste. Organisationsprinzip: Unverblümte Hackordnung. Kein Schuldempfinden. Nur was ich will, zählt. Zur Hölle mit den anderen. Das Gesicht, die Ehre um jeden Preis wahren! Scham kann erlebt werden, aber nicht Schuld. Menschen auf dieser Ebene reagieren extrem empfindlich auf Gesichtsverlust, Beleidigung ihres Ehrgefühls. Selbstbehauptung um jeden Preis. Starke Impulsivität.
Es ist eine erste wirkliche Ich-Werdung, die die Fesseln der vergangenen kollektiven Gruppenmoral und -normen abschüttelt und trotzig ausruft: Ich lebe was ich will, ich nehme mir was ich brauche. Nach mir die Sintflut. In seiner konstruktiven Variante ist jedoch das Bewahren der Impulsivität die Quelle für Spontaneität, Kreativität, Vitalität, Leidenschaft und Unmittelbarkeit in persönlichen Beziehungen.

Angst: vor dem ausbeuterischen raubtierhaften Mitmenschen.

Charakter der Existenz: ("Egocentric"). Egozentrisch. Impulsive Jagd nach der Befriedigung eigener Bedürfnisse mit wenig Frustrationstoleranz.

Vorhanden seit: ca 10 000 Jahren

Auslösende Bedingungen für eine Krise:
Die mächtigen Besitzenden werden nicht länger hingenommen, erduldet und akzeptiert. Die Unterdrückten und Benachteiligten setzen sich gemeinsam zur Wehr und kämpfen für ihre Rechte. Erwachen eines Bedürfnisses nach strukturierter Disziplin. Begreifen der Tatsache, dass man sterben muss, egal wie stark und mächtig man ist. Die Suche nach Sinn und transzendenter Ordnung / Autorität beginnt.

Beispiel: Jugendliche, die sich in der Pubertät aus den Fesseln der familiären Ordnung befreien (Sturm und Drang "Zeit). Der Film "Gomorrha" von Matteo Garrone über die Mafia in Neapel bietet einen eindrücklichen Einblick in eine Gesellschaftsform, die sich in Verbindung mit der tribalistischen (stammesorientierten) Lebensform (vorherige Ebene lila) nach diesem Wertesystem organisiert. Der englische Schriftsteller William Golding hat in seinem Roman "Herr der Fliegen" (Lord of the flies, 1954) diese Ebene sehr anschaulich beschrieben. Der Film "Sin Nombre - Zug der Hoffnung (2009)"[1] ermöglicht eindrückliche Einblicke in die Welt der mexikanischen Gangs, charakterisiert durch Raub, Rache und brutale Selbstbehauptung (rot), sowie Organisation in Gangs mit dem Anspruch auf Revier und bedingungsloser Zugehörigkeit und Gehorsam (lila). Ungehorsam und Verletzungen von Reviergrenzen durch Mitglieder rivalisierender Gangs werden mit brutaler Gewalt geahndet. Siehe hierzu auch: Inside Gang Territory in Honduras: Either They Kill Us or We Kill Them (Artikel der New York Times, Mai 2019).
 

 

Ebene: blau (DQ) Glaube an eine absolute Wahrheit.

Schwerpunkt: Die Vorteile der Disziplin werden entdeckt. Das Hauen und Stechen, die nackte Gewalt, das zügellose Streben der Stärkeren auf dem Rücken der Schwächeren nach noch mehr Befriedigung eigener Bedürfnisse wird sozusagen eingefroren und streng kanalisiert durch die Errichtung heiliger Ordnungen. Ab jetzt gilt das Gesetz. Die Ahndung von geschehenem Unrecht liegt nicht mehr bei dem Einzelnen, sondern ist übertragen auf eine gesellschaftliche Institution, ein Gericht, von dem ein Angeklagter verurteilt wird und entsprechend dem Gesetz eine gerechte Strafe erhält. Es gibt eine klare Vorstellung davon, was das rechtschaffene und gute Leben ist. In seiner pervertierten Form wird dieses Wertesystem diktatorisch, faschistoid und duldet keine anderen gesellschaftlichen Ordnungen, für die sich andere Menschen / Völker entschieden haben. Es gilt der Buchstabe des Gesetzes. Fundamentalisten, die naturgemäß in dieser Ebene verwurzelt sind, antworten gebetsmühlenhaft mit Zitaten aus ihrem heiligen Buch. Vermutlich zum ersten mal vollständiges Begreifen, dass man sterben muss. Dies führt zu einer Hinwendung an eine transzendentale Macht und den Glauben an eine jenseitige Welt, in der man für das Leiden und die Opfer in der diesseitigen Welt entlohnt wird. Glaube an eine transzendentale Wahrheit und eine göttliche Macht, die straft und belohnt. In seiner positiven Form ist es eine hocheffektive Organisationsform, in der eine Gruppe von Menschen koordiniert, schnell und eindeutig handeln muss (z. B. zur Bewältigung von Katastrophen).

Angst: vor einem strafenden Gott.

Aggression im Kampf um die absolutistisch verkündete Wahrheit und die Aufrechterhaltung von Machtstrukturen. Ideologische Kriege.

Charakter der Existenz: ("deferentialistic") Ehrerbietig, der Autorität die Ehre erweisend. Fraglose Unterordnung in einem hierarchischen System.

Vorhanden seit: ca 4000-5000 Jahren

Auslösende Bedingungen für eine Krise:
Menschen beginnen zu fragen: Warum muss ich eigentlich auf mein Vergnügen, auf die Erfüllung meiner Bedürfnisse bis zum Jenseits warten? Warum nicht jetzt? Als im Mittelalter die Pest jeden traf, auch wenn er ein frommes Leben im Dienste Gottes geführt hatte, erschütterte dies den Glauben daran, dass die Befolgung der Gesetze und der heiligen Ordnung Sicherheit und Vorhersagbarkeit des Lebens und Lohn für Entsagung garantiert. Eine Erschütterung des Glaubens fand statt.
 

Beispiel: Katholische Kirche im Mittelalter, Galileo musste seine Erkenntnisse widerrufen, zahlreiche Menschen landeten auf dem Scheiterhaufen.
 

 

Ebene: orange (ER) Wettbewerb und persönlicher Erfolg

Schwerpunkt: Die äussere Autorität wird ersetzt durch die Autorität der eigenen Erfahrung. Glaube an Selbstbestimmtheit anstatt schicksalshafte Fremdbestimmtheit durch eine transzendentale immerwährende und ewig währende Ordnung. Der persönliche Erfolg zählt und wird unter Beachtung der geltenden Regeln und Gesetze gesucht - bzw. man versucht, sich nicht dabei erwischen zu lassen, wenn man dagegen verstösst. Frustrationstoleranz ist im Gegensatz zur vorletzten Ebene (rot) ausgebildet. Fähig, Selbstdisziplin zu üben, um langfristige und komplexe Ziele zu verfolgen. Der Zweck heiligt die Mittel. Das was funktioniert, ist richtig. Moralische Überlegungen spielen kaum eine Rolle. Statt dessen pragmatisch. Nützlichkeit in Bezug auf eigene, durchaus langfristige Ziele, ist der Massstab für Bewertungen. Problemlöser in eigenem Interesse. Es wird nicht mehr durch rohe Gewalt versucht, die Natur zu beherrschen, sondern durch Erlernen der (Natur-) Gesetze und Regeln, um diese Erkenntnisse zum eigenen Nutzen anzuwenden. Lust an Wettbewerb. Entscheidungen werden aufgrund rationaler Überlegungen getroffen. Grundsätzlich ist es aber ebenfalls eine positive und notwendige Entwicklung in der Menschwerdung. Der Mensch erkennt, dass er dank sorgfältiger Beobachtung, Ableiten von Regeln und Gesetzmässigkeiten Naturkräfte beherrschen kann, denen er früher ausgeliefert war. Dies erst ermöglicht die explosionsartige Entwicklung von Technologien, mit denen der Mensch sich immer mehr ermöglicht. Der Flug zum Mond wird machbar.

Angst: keinen Status zu erlangen, keine Position zu erreichen, die erlaubt, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Angst vor Kontrollverlust, die Zügel nicht mehr in der Hand zu haben, um das eigene Schicksal zu lenken.
Charakter der Existenz: ("materialistic") Materialistisch. Geniesse das diesseitige Leben. Jeder ist seines Glückes Schmied. Ich bin mein eigener Gott.

Vorhanden seit: ca 600-700 Jahren (mit Beginn der empirischen Wissenschaften)

Auslösende Bedingungen für eine Krise:
Erleben von Sinnlosigkeit, Leere und Einsamkeit trotz materiellem Erfolg. Es erwacht ein Bedürfnis nach sinnvollem Handeln, das die eigenen begrenzten individuellen Ziele (eigenes Wohlbefinden und Lustgewinn) transzendieren: Es entsteht der Wunsch, einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Das Gefühl entsteht: auf der Suche nach materialistischem Erfolg haben wir unser Herz und unsere Seele verloren.
 

Beispiel: Martin Luther (Reformation), Beginn der Aufklärung und der empirischen Wissenschaften, Kepler, Galileo, Newton, etc.
 

 

Ebene: grün (FS) Soziale Orientierung ist wichtiger als Behauptung des Selbst

Schwerpunkt: Kooperation ist wichtiger als Wettbewerb. Der gnadenlose Wettbewerb hat zu grossen Unterschieden geführt. Die Spaltung der Menschen in gut und böse, reich und arm, höherwertig und minderwertig, Sünder und Heilige soll aufgehoben werden. Alle sind gleich und alle haben die selben Rechte! Das Erwachen des Mitgefühls. Entscheidungen werden nicht nur aufgrund von Fakten getroffen, sondern auch in Bezug auf Werte und Gefühle getroffen. Egalitäre bzw. pluralistische Sichtweise. Der Mensch erkennt, dass Menschen einander brauchen. Nach dem der Mensch sich entdeckt hat und sich um seine Interessen und Bedürfnisse genügend gekümmert hat, beginnt er seine Mitmenschen zu entdecken und sie als gleichwertige Menschen mit eigenen Bedürfnissen und Interessen wahrzunehmen. Gefahr: Alles ist gut. Selbstzufriedenheit, in der vergessen wird, dass Umwelt auch gestaltet werden muss (z. B. müssen Häuser gebaut und in Stand gehalten werden) und nicht alles, was Menschen tun und denken, ist einfach gut.

Charakter der Existenz: ("Personalistic"). Konsensorientiert. Freunde, Parteigenossen, Mitglieder meiner eigenen Bezugsgruppe sind wichtiger als meine persönlichen Bedürfnisse.

Angst: nicht dazu zugehören, von der Gruppe schief angesehen zu werden, keine soziale Bestätigung durch die Referenzgruppe (Familie, Peer-Gruppe) zu erhalten.

Vorhanden seit: ca 1900 (Aufkommen des Kollektivismus, z B. Kommunismus)

Auslösende Bedingungen für eine Krise:
Die eigenen Energien sind zunehmend aufgebraucht im Kampf um Konsens und Beitrag für die Gemeinschaft. Individuelle Gefühle, Ansichten und Ziele scheinen nicht mehr zum Kollektiv zu passen. Zunehmende Missklänge und Streitigkeiten führen zum Wunsch, sich wieder alleine auf den Weg zu machen. Da der Mensch sich zu viel nur um Gruppe und Harmonie mit allen Mitmenschen und Anerkennung gekümmert hat, hat er seine Umwelt und seine eigenen Interessen aus dem Auge verloren. Das Dach fällt ihm auf den Kopf, wenn er sich nicht auch darum kümmert.
 

Beispiel: Aufbruchstimmung in den Sechzigern: All you need is love. Alle sind gleich. Verabschiedung der Menschenrechte vor 60 Jahren.
 

 

Ebene: gelb (A'N', Beginn 2. Ordnung) - Selbstverwirklichung, aber nicht auf Kosten anderer

Schwerpunkt: Prozesshaftes Denken. Alles ist im ständigen Fluss. Alles ist ständige Transformation. Das einzig Beständige ist die ununterbrochene Veränderung. Netzwerkarbeit. Der Mensch begreift, dass er mit anderen Menschen absolut und verwoben und in gesellschaftlichen Systemen wechselseitig bezogen ist. Aufkommen des systemischen Denkens und Handelns. Es geht nicht mehr darum, irgend etwas beweisen zu müssen. Die physiologische Existenz als Individuum und die psychologische Existenz als Selbst ist nicht in Frage gestellt. Darum geht es nicht mehr. Basierend auf diesem selbstverständlichen Daseinsgrund kann er sich dem, was ihn interessiert und Themen, die über ihn selbst hinaus gehen, zuwenden. Der Mensch erkennt, dass er durch sein Wirken in den vergangenen Stufen, in denen es um die Befriedigung seiner Bedürfnisse ging, das Fortbestehen der Menschheit insgesamt gefährdet hat. Das heisst, es geht jetzt nicht um das Überleben des eigenen Organismus, sondern das Überleben der Menschheit, die Notwendigkeit, das Leben auf der Erde insgesamt nicht zu gefährden. Die Anpassung der Welt an die eigenen Vorstellungen / Bedürfnisse erfolgt nicht mehr aus einer egozentrischen Perspektive. Der Mensch bemüht sich bei der Gestaltung seiner Welt umsichtig und realistisch zu sein. Anders als auf der vorherigen Stufe unterwirft er sich jedoch nicht einer Gruppenmeinung sondern geht - wenn man sich nicht einigen kann - alleine seinen Weg. Das macht ihn freier und origineller im Denken, da er nicht mehr soviel Wert auf Zustimmung und Anerkennung legt.

Charakter der Existenz: (Cognitivistic, systemic) Kognitivistisch weil der Mensch erkennt, was er angerichtet hat. Erkennen von gewaltigen, akkumulierten Problemen: Klimawandel, Umweltverschmutzung, Ausbeutung endlicher Ressourcen ...Bringe Dein Selbst zum Ausdruck wie es Deinem Bedürfnis entspricht und was andere brauchen, aber niemals auf Kosten anderer, und in einer Weise, dass alles Leben, nicht nur dein eigenes, davon profitiert. Die Aufgabe / Mission: Sorge auch dafür, dass Menschen, die noch auf vorhergehenden Stufen der Entwicklung leben, sich so verhalten und entwickeln, dass sie nicht das Leben auf der Erde insgesamt gefährden.

Vorhanden seit: ca 1952-53 (Beginn des systemischen Denkens)

Angst ist nicht mehr wirklich handlungsbestimmend. Auflösung von Angst und Impulsivität. Aggressivität ist nicht länger eine treibende, handlungsbestimmende Kraft. Sie mag noch erlebbar sein, ist aber dem Ziel, die Lebensgrundlagen auf der Erde auch für zukünftige Generationen zu wahren, untergeordnet.

Auslösende Bedingungen für eine Krise:
Er erkennt, dass er niemals alles Wissen kann, dass er unbekannten Kräften, auch wissenschaftlich noch nicht erforschten Kräften ausgeliefert ist.
 

Beispiel: kreative selbstgenügsame, unabhängige Menschen, die ihre Fähigkeiten und ihren Reichtum dem Gemeinwohl zur Verfügung stellen (zum Beispiel Aufkauf von Regenwald, um diesen vor Rodung zu schützen), Albert Schweitzer.
Wer eindrückliche Beispiele für Projekte finden will, die dem Denken und Wertesystemen dieser Ebene entsprechen, sollte sich den Film "Tomorrow - Die Welt ist voller Lösungen " nicht entgehen lassen.
 

 

Ebene: türkis (B'O') Demut und Akzeptieren der Grenzen des begreifenden Verstandes

Schwerpunkt: Die intuitive Seinsebene. Es gibt vieles mehr, das niemals verstanden werden kann. Hingabe an das was ist. Bewusstseinserweiterung jenseits des begreifenden Verstandes. Wirklichkeit kann erfahren, aber nie wirklich ganz begriffen, mit dem Verstand erfasst werden. Akzeptiere das, was ist. Es ist keineswegs eine passive, sondern eine bewusst gewählte, ehrfürchtige Haltung.

Charakter der Existenz: Opfere die Idee, du könntest jemals vollständig alles begreifen. Akzeptiere Dein Nicht-Wissen-Können. Erkenne die Notwendigkeit des Lebens wie es ist und akzeptiere die notwendigen Widersprüche und Gegensätze des Lebens. Warmherzige Unterstützung von Menschen auf ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe - jedoch eher im Modus des Begleitens ohne zu Intervenieren.

Vorhanden seit: ca seit ?

Auslösende Bedingungen für eine Krise: noch nicht bekannt
 

 

Beispiel: Zen-Meister, Lao-Tse, Menschen, die sich in ihrer spirituellen Praxis auch mit dem nicht-menschlichen Universum verbinden und ihr Bewusstsein in diese "Räume" ausweiten. Leibniz: Wir leben in der besten aller möglichen Welten. Zitat aus Wikipedia (zu Leibnitz) : Die Idee der "besten aller möglichen Welten" soll nicht in naiver Weise tatsächliches und großes Übel in der Welt leugnen oder schönreden. Vielmehr wird von Leibniz auf einen notwendigen Zusammenhang zwischen Gutem und Üblem hingewiesen. Es gäbe nämlich Gutes, das nur zum Preis der Existenz von Übel zu haben ist. Die wirkliche Welt ist die beste u. a. in dem Sinne, dass das Gute in ihr auch von Gott nicht mit einem geringeren Maß an Übel verwirklicht werden kann. Außerdem ist die "beste aller möglichen Welten" dynamisch gedacht: Nicht der derzeitige Zustand der Welt ist der bestmögliche, sondern die Welt mit ihrem Entwicklungspotential ist die beste aller möglichen Welten.
 

Das Modell mit den wesentlichen Dimensionen im Überblick
 

 


Der Grad der Bewusstheit bzgl. Selbst und Umwelt, Freiheit im Denken und Handeln, der bewältigbaren Komplexität in der Umwelt und die Integration vorhergehender Entwicklungsebenen nimmt mit fortschreitender Entwicklung zu.
 

Was sind Meme?

Definition "Mem" laut Wikipedia:
"Mit dem Begriff des "Mem" wird in der Theorie der Memetik eine Idee oder ein Gedanke als konzeptuelle Informationseinheit bezeichnet. Solch ein Mem entwickelt sich zuerst im Fühl- und Denkvermögen eines Individuums und wird durch Kommunikation weiterverbreitet. Durch individuelles Nachdenken und durch Kontakt mit anderen Memen entwickeln sie sich weiter. Beispiel: Ein Gerücht, das von einer Person erdacht und mitgeteilt wird, verbreitet sich je nach Brisanzgrad weiter. Es tauchen weitere Varianten des Gerüchtes auf."

Meme werden von Richard Dawkings in Anlehnung an Gene als Informationseinheiten betrachtet, die ebenso wie Gene sich selbst reproduzieren wollen und hierbei das Gehirn als Wirt benutzen. Das Gehirn dient sozusagen als neurologischer Nährboden für Entwicklung und Fortpflanzung durch Kommunikation mit anderen Gehirnen. Insofern ist das Bewusstsein an sich leer, es ist nur Zeuge des Treibens unterschiedlicher Meme in seinem an sich leeren Bewusstseinsraum. Jegliche Identifikation des Ichs mit einer bestimmten Idee ist nur eine Täuschung und dient dem Fortbestand eines Mems, entspricht aber nicht der "Wirklichkeit". Diese Auffassung kommt buddhistischen Auffassungen von der Natur des Geistes recht nahe.
 

 


So wie unser Körper von 1-2 kg Mikroorganismen bevölkert wird, mit denen wir in friedlicher Symbiose leben - ohne könnten wir nichg verdauen, ohne sie würde unser Stoffwechsel zusammenbrechen - wird unser Geist von Memen bevölkert.

 

Was sind WMeme?

Ein WMem bezeichnet einen zusammenhängenden Komplex von Memen. Es kann als eine Art Attraktor für bestimmte Auffassungen, kulturelle Handlungen, die Art sich zu kleiden, zu sprechen, Beziehungen zu gestalten, zu essen etc... verstanden werden. So mag ein Blaues WMem ("Schwerpunkt: es gibt eine heilige Ordnung, absolutistische Perpektive") charakterisiert sein durch polarisiertes schwarz-weiss-Denken (richtig-falsch, gut-böse, oben-unten, ...) sowie die Art der Koordination (Befehl und Gehorsam), klar abgegrenzte Beziehungen in denen Rechte und Pflichten eindeutig sind etc ...

Ein zentraler Gedanke von Beck und Cowan ist, dass das Denken und Verhalten eines Menschen und dementsprechend auch Organisationen häufig durch mehrere WMeme mit unterschiedlicher Gewichtung gesteuert wird. Es gibt also wie in einer Demokratie verschiedene "Interessensgruppen", die entweder miteinander um die Dominanz bei der Verhaltenssteuerung kämpfen oder sich verbünden. So können wir innere Konflikte erleben (ich maximiere meinen persönlichen Gewinn in einer Beziehung (orange) erlebe danach aber Schuldgefühle aufgrund verinnerlichter Gebote: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (blau). Ein harmonisches Zusammenwirken von Memen kann sich zum Beispiel darin zeigen, dass jemand sich sehr erfolgsorientiert (orange) in einer hierarchischen Organisation (blau), deren Regeln er verstanden und zu seinem Vorteil zu nutzen weiss, nach oben arbeitet. Jemand, der seinen Schwerpunkt nur in "Blau" hat, wird eher mit einem Platz, in dem er unter klaren Bedingungen klare Ansagen bekommt, zufrieden sein. Jemand, dessen Verhalten kaum oder gar nicht mehr von einem blauen WMem beeinflusst wird, wird solch eine Organisation eher verlassen und ein freieres Wirkungsfeld suchen.
 

 


Welches der entwickelten WMeme das Verhalten wie stark dominiert, hängt vom Kontext ab. So kann jemand streng gläubig sein mit wenig Toleranz für einen anderen Glauben (blau), in seinem Berufsleben ein stark erfolgsorientierter Unternehmer sein (orange) und am Wochenende in seiner Fussballmannschaft stark teamorientiert (grün) gegen andere Mannschaften um den ersten Platz kämpfen (orange). Jemand, der dieses grüne " WMem" nicht in sich sehr ausgeprägt hat, würde eine Einzelkämpfersportart bevorzugen (z. B. Tennis, Thriatlon).
 

Sechs Voraussetzungen für die Entwicklung auf eine nächste Ebene

  1. Entwicklungspotential ist vorhanden (z. B. ein Mindestmass an Intelligenz)
  2. Probleme der derzeitigen Existenzstufe sind gelöst (z. B. es ist genügend Nahrung vorhanden, ich muss nicht erst jagen sondern nur in den nächsten Supermarkt gehen). Dadurch ist meine Energie nicht länger in der Suche nach Lösungen für diese Probleme gebunden und steht für anderes zur Verfügung.
  3. Dissonanz in Form einer Störung durch die Umwelt oder durch die Veränderung innerer Bedingungen (z. B. Realisierung der eigenen Sterblichkeit trotz erlangtem Machtstatus)
  4. Einsicht (z. B. wir müssen den CO2 Ausstoss signifikant reduzieren um den Klimawandel zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern)
  5. Beseitigen von Hindernissen (z. B. Widerstände bei verschiedenen Nationen, sich bestimmten Grenzwerten bzgl. CO2-Freisetzung zu unterwerfen, technische Probleme wie die Entwicklung neuer CO2-neutraler Antriebsmotoren)

     
  6. Konsolidierung der neuen Wege(entspricht Integrationsphase und neuer Status-Quo im Modell von Satir / Lewin, siehe Erläuterung dieses Modells in dem Artikel: "Was ist Organisationsentwicklung?"

 

 

Fünf Phasen der Transformation

Clare Graves geht davon aus, dass sich Phasen der relativen Stabilität mit Phasen der Destabilisierung/Verunsicherung abwechseln. Er formuliert 5 typische Phasen bei der Transformation von einer Entwicklungsebene auf die nächste:

  1. Alpha: stabil und im Gleichgewicht
  2. Beta: Zeit der Unsicherheit und des Infragestellens
  3. Gamma: Zeit der Wut, Angst und Verwirrung
  4. Delta: Inspirierte Begeisterung
  5. Alpha neu: Stabilität im nächsten Wertesystem (d. h. auf der neuen Entwicklungsebene)
 

Hier gibt es interessanterweise eine deutliche Entsprechung zum Modell "Phasen der Entwicklung" von Satir/Lewin:  

Verbindungen zum Modell "Phasen der Entwicklung nach Lewin/Satir"

In der folgenden Grafik habe ich die Entsprechung grafisch dargestellt.
 

 



Eine eingehende Erläuterung des Modells "Phasen der "Entwicklung nach Satir/Lewin" können Sie unter folgendem Link finden:

Was ist das Anliegen der Organisationsentwicklung?

In folgendem Artikel beleuchte ich das Thema "Werte" noch einmal aus Sicht des Existenzanalytikers Alfried Längle:

Warum Nacktschnecken so selten nach dem Sinn des Lebens fragen

 

 

Literatur 
 

  • Beck, Don E. and Cowan, Christopher C. : Spiral Dynamics (Deutsch), 2007
  • Binder, Thomas: Ich-Entwicklung für effektives Beraten, Vandenhoeck und Ruprecht, 2019
  • Gebser, Jean: Ursprung und Gegenwart teil 1. Das Fundament der aperspektivischen Welt. Beitrag zu einer Geschichte der Bewusstwerdung. (Gesamtausgabe Band II) Novalis Verlag, 1986.
  • Graves, Clare W.: The Neverending Quest, edited by Christopher C. Cowan and Natasha Todorovic, (Englisch) 2005
  • Harari, Yuval Noah: Homo Deus. A Brief History of Tomorrow, 2016
  • Harari, Yuval Noah: Sapiens. A Brief History of Humankind, 2011
  • Hy, Xuan; Loevinger, Jane: Measuring Ego Development, Psychology Press, 2014.
  • Küstenmacher, M.; Haber, T.; Küstenmacher, W. T.: Gott 9.0 - Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird. 6. Auflage, 2015.
  • Laloux, Frédéric: Reinventing Organizations, 2014.
  • Schein, Edgar H., Organizational Culture and Leadership, 3rd Edition, Jossey Bass, San Francisco, 2004
  • Wilber, Ken; Petersen, Karin: Integrale Spiritualität, Kösel Verlag, 2007
    In diesem Buch findet sich eine nützliche Einordnung und Besprechung des Modells von Graves im Kontext des sogenannten AQAL-Modells

 

 

 

 

Weblinks

 

 

 Fussnoten