Direkt zum Inhalt

Was ist Organisationsentwicklung?

 

"Nichts ist schwieriger zu handhaben, nichts gefährlicher durchzuführen
und nichts von zweifelhafteren Erfolgsaussichten begleitet,
als eine Neuordnung der Dinge."

Niccolò Di Bernardo Machiavelli


"Es gibt nichts praktischeres als eine gute Theorie."

Kurt Lewin


"Gib niemals auf, habe keine Angst zu führen,
folge deiner inneren Stimme
und vergiss nie, dass es um Menschen geht."

Ernest Shackleton, Polarforscher


"People are usually afraid of change because they fear the unknown.
But the single greatest constant of history is that everything changes"

Yuval Noah Harari



 

 



 

Um das Anliegen der Organisationsentwicklung zu erläutern, ist es hilfreich, sich zunächst mit dem Modell "Phasen der Entwicklung" vertraut zu machen. Anhand dieses Modells lässt sich die Frage, was das Anliegen der Organisationsentwicklung ist, leicht beantworten.

 

 

Phasen der Entwicklung nach Satir/Lewin 

 

Phase 1: "Alter Status Quo" 
 

Jedes System (Team, Abteilung, Unternehmen ...) tendiert dazu, im Laufe der Zeit einen Gleichgewichtszustand zu erreichen (wiederkehrende Abläufe, etablierte Rollenerwartungen, bewährte Aufgabenverteilungen, ...).
Dieser Gleichgewichtszustand hat verschiedene Vorteile, wie zum Beispiel hohe Effizienz, die Routine in wiederkehrenden Abläufen mit sich bringt. Außerdem brauchen Menschen ein Mindestmaß an subjektiv empfundener Vorhersagbarkeit ihrer Umwelt, um sich sicher und wohl zu fühlen.
Ohne Not wird dieser gefundene Gleichgewichtszustand nicht aufgegeben. Es gibt einen natürlichen Widerstand gegen das Verlassen dieses Gleichgewichts, denn jeder weiß, was er/sie hat und niemand weiß mit Sicherheit, was kommt, wenn man es trotzdem wagt.

 

Phase 2: "etwas Neues" 

Wenn dieser Gleichgewichtszustand trotzdem aufgegeben wird, dann deshalb, weil ...

  • ... eine veränderte Umwelt uns dazu zwingt (z. B. neue Gesetzgebung)
  • ... wir einen besseren Zustand erreichen wollen (z. B. neue Märkte erschließen)
  • ... sonst unser Überleben gefährdet ist

Wesentliche Veränderungen (initiiert durch Entscheidungen, Umstrukturierungen ...) führen aufgrund ihrer Tragweite und der Wechselwirkungen im System nicht unmittelbar zu einem neuen Gleichgewichtszustand, sondern zunächst mal in eine mehr oder weniger ausgeprägte Phase der Instabilität. Diese Phase geht mit einer Erhöhung der subjektiv empfundenen Unsicherheit einher, die von manchem als Herausforderung, von anderen bereits als Bedrohung erlebt wird. Die Leistungskurve sinkt ab, da Neues emotional und praktisch zu bewältigen ist und deshalb Energie, Aufmerksamkeit und Arbeitskraft benötigt, die sonst für die bisher gewohnten Leistungen zur Verfügung stand. Ist die alte Ordnung durch das Neue wesentlich gestört und nicht mehr aufrechtzuerhalten, beginnt die Phase 3: "Verunsicherung und Chaos".

 

Phase 3: "Verunsicherung und Chaos"

Das Niemandsland zwischen alter und neuer Ordnung: Die Phase der Verwirrung ("Chaos") ist gekennzeichnet durch widerstrebende Meinungen, Motive, Gefühle, Geschwindigkeiten in der Identifikation mit den neuen Zielen und Umsetzung derselben sowie zeitweilige Orientierungslosigkeit bei den Betroffenen: Bewährtes ist in Frage gestellt, "das Neue" noch nicht greifbar. Diese Phase macht manchem Angst.
Ist dieses Niemandsland zwischen verlorener alter Welt und noch nicht gelebter neuer Welt betreten (Phase des Chaos) sind verschiedene Szenarien denkbar:
 

  • es wird irgendwann ein neuer Status Quo erreicht ...
    • ... auf höherem z. B. effizienterem Niveau
    • ... auf niedrigerem Niveau
  • man kehrt auf halbem Wege um und findet sich geschwächt oder gestärkt wieder im alten Status Quo
  • man scheitert und das System löst sich auf

Es gibt eine große Sehnsucht bei den Initiatoren der Veränderung, sofort vom alten Status Quo in den neuen Status Quo wechseln zu können. Diese Sehnsucht birgt neben der Kraft, die für mutige Veränderungen unerlässlich ist, aber auch eine große Gefahr. Warum? Wer unbedingt so schnell wie möglich etwas verändern will ist verführt, ...
 

  • ... Unsicherheiten und wichtige Fragen zu übergehen
  • ... Widerstand bei den Betroffenen gegenüber der Veränderung vorschnell abzuwerten, anstatt darin eine wichtige Information über vielleicht bisher vernachlässigte Aspekte der Veränderung zu sehen
  • ... notwendige Entwicklungsschritte nicht zu tun (z. B. rechtzeitige Auseinandersetzung mit Befürchtungen, frühzeitige Berücksichtigung auch anderer Perspektiven, rechtzeitige Einbindung relevanter Interessengruppen, ...)

 

Es bleibt meist nicht bei einem neuen Impuls (etwas Neues). Ein weiterer folgt:

  • von außen (Märkte, Konkurrenz, Kundenverhalten, Gesetze, ...)
  • von innen: Versuche, das Chaos und die Verwirrung mit weiteren Entscheidungen zu bewältigen, die jedoch ihrerseits wieder zu bewältigende Veränderungen nach sich ziehen. Wenn hier nicht mit Bedacht vorgegangen wird, - und dies ist in Zeiten der Krise häufiger der Fall - besteht die Gefahr einer sich beschleunigenden Aktionismus-Spirale, die das Chaos noch verstärkt:



Hartmut Rosa, Professor für Soziologie in Jena, erläutert in seinem Buch Resonanz (2017) eindrücklich, dass die eskalierende Dynamisierung in den Bereichen von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft ein wesentliches Charakteristikum der Moderne ist. Er nennt dies dynamische Stabilisierung und schreibt: 'Die Kerneinsicht über das daraus resultierende Weltverhältnis [...] lautet daher, dass wir immer schneller laufen müssen, um unseren Platz in der Welt zu halten.'[1] Für dieses Charakteristikum der Moderne (dynamische Stabilisierung) finden wir schon in Alice im Wunderland von Lewis Carrol den entsprechenden Rat der Herzkönigin: 'Man muss so schnell laufen wie man kann, damit man am gleichen Ort bleibt'. Evolutionsbiologen haben deshalb das Phänomen, dass häufig derjenige eher überlebt, der sich schneller anpasst, Herzköniginnen-Effekt genannt.

Es ist aufgrund der vielfältigen offiziellen und inoffiziellen Beziehungsgeflechte (Vernetzungen) und etablierten Muster der Zusammenarbeit nicht vorhersehbar, wie sich letztendlich eine Intervention, also ein Impuls von außen auf das System als Ganzes auswirken wird. Ein und der selbe Impuls (z. B eine wichtige Information) kann, - je nachdem, wo sie im System landet - zu ganz unterschiedlichen Auswirkungen führen. (siehe auch Landkarte: Die Grundannahmen systemischen Denkens).

 

Phase 4: "Integration" 

Wird die Phase der Verwirrung und des Chaos konstruktiv gemeistert, finden allmählich alle Beteiligten einen neuen Rhythmus in der Zusammenarbeit. Das System fährt sich ein wie ein neuer Motor. Es etabliert sich zunehmend eine neue Ordnung, die zwar noch hier und da ein paar Kinderkrankheiten hat, aber im großen und ganzen beginnt, sich zu bewähren.  

 

Phase 5: "Neuer Status quo" 

Der neue Status Quo ist endlich etabliert. Das System hat ein neues dynamisches Gleichgewicht gefunden. Selbst die Menschen, die noch in der Chaosphase lange der alten Ordnung nachgetrauert haben, haben sich in die neue Ordnung integriert. Die notwendigen neuen Fähigkeiten sind erworben, Reibungsverluste, die in der Integration noch auftraten, sind nur noch minimal. Ein sehr optimistisches Modell mögen Sie sagen. Das stimmt. Tatsache ist, wenn keine weiteren Veränderungen aus der Umwelt oder dem System kommen, ist dieser Zustand in der Regel zu erwarten. Denken Sie nur - sofern Sie eine Familie gegründet haben - an die Geburt des ersten Kindes (etwas Neues!). Der alte Rhythmus des Miteinanders ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Kinobesuche oder anderweitig gemeinsam verbrachte Abende zu zweit werden zum besonderen Ereignis, da Sie von jetzt an zu dritt sind. Das neue Kind fordert Ihre Aufmerksamkeit am Tage und in der Nacht und erst mit der Zeit werden Sie (hoffentlich!) eine neue Form des Familienlebens gefunden haben, in der das Kind seinen Platz hat. Das ist Phase 5. Wenn Phase 5 in Ihrem Unternehmen nicht mehr erreicht wird, weil - im übertragenen Sinne gesprochen - ständig neue Kinder in die Welt gesetzt werden, die Kinder von gestern vernachlässigt werden, verhungern und verwahrlosen etc. kann natürlich keine Ruhe einkehren. Dann wird das Chaos zur Tagesordnung und die Aussage: "Kein Stein bleibt auf dem anderen" eine traurige Wahrheit, denn wo ein System nicht mehr zur Ruhe kommt, droht Auflösung.
Aus den vorangegangenen Überlegungen ergibt sich das Anliegen der Organisationsentwicklung und die Herausforderung für Führungskräfte in Zeiten der Veränderung:
 

 

Es ist das Anliegen der Organisationsentwicklung, einen Rahmen für die Bewältigung des Neuen zu schaffen und die notwendige Entwicklung zu fördern. Hierbei wird im Sinne der Nachhaltigkeit und Wirksamkeit Wert darauf gelegt, die Betroffenen so stark wie möglich einzubeziehen.
 

 



 

Das Anliegen der Organisationsentwicklung ist es, entweder proaktiv bzw. vorausschauend oder reaktiv Entwicklung zu ermöglichen. Was heißt das? In ihrem proaktiven Ansatz ist der Anspruch der OE, vorausschauend und prophylaktisch Veränderungen einzuleiten und auch im Sinne des "futuring" zu fragen: "Welche Zukunft wollen wir und was können wir dazu beitragen, dass diese visionierte Zukunft auch wahrscheinlich wird?" Zum Beispiel macht dies die Szenario-Technik der Shell Group seit Mitte der siebziger Jahre sehr erfolgreich. (zu "futuring" siehe auch Jaworsky, Scharmer, 2000)
In ihrem reaktiven Ansatz verfolgt die Organisationsentwicklung das Ziel, wenigstens nach "Einschlag des Neuen" einen Rahmen zu schaffen, der zur konstruktiven Bewältigung der "Chaos" Phase im Sinne der definierten Unternehmensziele beiträgt und sicherstellt, dass notwendige Entwicklungsschritte auch stattfinden (der im Schaubild eingezeichnete kleinere Rahmen).

 

Für beide Ansätze sind notwendige Entwicklungsschritte beispielsweise:
 

  • Formulierung von Visionen und Zielen
  • Auseinandersetzung mit getroffenen Entscheidungen
  • Entwicklung von konkreten Lösungsideen mit den Betroffenen
  • Klärung und Vereinbarung der gegenseitigen Rollenerwartungen und Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Abteilungen
  • Reflexion bisheriger Aktivitäten und Projekte mit dem Ziel, hieraus für die zukünftige Arbeit zu lernen
  • Konstruktiver Umgang mit Emotionen, die bei den Betroffenen durch den Veränderungsprozess ausgelöst werden. (nicht im Sinne von Therapie, sondern im Sinne der Frage, wie kann mit der freigesetzten emotionalen Energie so umgegangen werden, dass sie irgendwann wieder in hohem Engagement und Motivation der Mitarbeiter zum Ausdruck kommen kann? Siehe hierzu: Die emotionale Verarbeitung unerwünschter Veränderungen

 

Die Herausforderung für Sie als Führungskraft ist, die Spannungsfelder, die die Entwicklung einer Organisation automatisch mit sich bringen, zu berücksichtigen und auszubalancieren: Spannungsfelder der Organisationsentwicklung



Verbindungen zum Modell "Spiral Dynamics" 
 

Clare Graves, der Urheber des Modells der Entwicklung menschlicher Wertesysteme ("Spiral Dynamics ") hat ganz ähnliche Phasen für den Übergang von einer Entwicklungsebene auf die nächste schon in den sechziger Jahren formuliert:
Er geht genau so wie Lewin & Satir davon aus, dass sich Phasen der relativen Stabilität mit Phasen der Destabilisierung/Verunsicherung abwechseln:

  1. Alpha: stabil und im Gleichgewicht
  2. Beta: Zeit der Unsicherheit und des Infragestellens
  3. Gamma: Zeit der Wut, Angst und Verwirrung
  4. Delta: Inspirierte Begeisterung
  5. Alpha neu: Stabilität im nächsten Wertesystem (d. h. auf der neuen Entwicklungsebene)

 



In der folgenden Grafik habe ich die Entsprechung grafisch dargestellt:
 

 




In folgendem Artikel erläutere ich Spiral Dynamics und beschreibe darin auch die Originalstudien von Clare Graves:

Spiral Dynamics

 

Literatur 
 

  • Baumgartner, I; Häfele, W.; Schwarz, M.; Sohm, K.; OE-Prozesse - Die Prinzipien systemischer Organisationsentwicklung. Ein Handbuch für Beratende, Gestaltende, Betroffene, Neugierige und OE-Entdeckende. HAUPT-Verlag, 6. Auflage, 2000.
  • Doppler, K.; Lauterburg, C.: Change Management - Den Unternehmenswandel gestalten. Campus Verlag,2008.
  • Ehmer Susanne et. al.: Überleben in der Gleichzeitigkeit - Leadership in der Organisation N.N., Carl-Auer Verlag 2016
  • Häfele, Walter (Hrsg), OE-Prozesse initiieren und gestalten. Ein Handbuch für Führungskräfte, Berater/innen und Projektleiter/innen, Haupt-Verlag, Bern, 2007
  • Heitger, Barbara, Serfass, Annika: Unternehmensentwicklung. Wissen, Wege, Werkzeuge für morgen. 2015
  • Hock, Dee: Die chaordische Organisation, Klett-Cotta, 2008
  • Hock, Dee: One From Many - Visa and the Rise of Chaordic Organization, Berret-Koehler Publishers, San Francisco, 2005
  • Hurst, David K., Crisis and Renewal - Meeting the Challenge for Organizational Change, Harvard Business School Press, 2002
  • Jaworski, Joseph: Source. The Inner Path of Knowledge Creation. Oakland, 2012.
  • Kruse, Peter: Erfolgreiches Management von Instabilität. Veränderung durch Vernetzung. 2020.
  • Laloux, Frédéric: Reinventing Organizations, 2014.
  • McChrystal, Stanley, et al.: Team of Teams, New Rules of Engagement for a complex world, 2015
  • Mintzberg, Henry: Understanding Organizations ... Finally! Structuring in Sevens, 2023
  • Morrell, M.; Capparell, S.: Shackletons Führungskunst - Was Manager von dem großen Polarforscher lernen können. Rohwolt Taschenbuch Verlag, 9. Auflage, 2011
  • Owen, Harrison: Open Space Technology - A User's Guide (3rd Edition), Berrett-Koehler, 1997.
  • Rosa, Hartmut: Resonanz - Eine Soziologie der Weltbeziehung. 7. Auflage, 2017
  • Satir, V.; Banmen, John; Gerber, J.; Gomori, M.: The Satir Model: Family Therapy and Beyond. 1991. Deutsch: Das Satir-Modell: Familientherapie und ihre Erweiterung, Jungfermann-Verlag, 2007.
  • Scharmer, C. Otto: Theorie U - Von der Zukunft her führen - Presencing als soziale Technik, Carl-Auer Verlag, 2009
  • Scharmer, O., Theory U - Leading from the Future as It Emerges - The Social Technology of Presencing, Berrett-Koehler Publishers, San Francisco, 2009
  • Scharmer, Otto; Käufer, Katrin (2013). Leading from the emerging future: from ego-system to eco-system economies (1st ed.). San Francisco: Berrett-Koehler.
  • Schein, Edgar H., Organizational Culture and Leadership, 3rd Edition, Jossey Bass, San Francisco, 2004
  • Senge, P; Scharmer, O.; Jaworski, J.; Flowers, B.; Presence - Exploring profound Change in People, Organizations and Society,Nicholas Brealey Publishing, London, 2008
  • Senge, Peter M., Die fünfte Disziplin - Kunst und Praxis der lernenden Organisation, Klett-Cotta, 1999
  • Sennett, Richard: The Corrosion of Character, New York, 1999
  • Weick, K. E.; Sutcliffe, K. M. :Das Unerwartete managen: Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen, Schäffer-Poeschel Verlag, 2010.
 

Weblinks 
 



 

 Fussnoten 
  1. Rosa, Hartmut: Resonanz - Eine Soziologie der Weltbeziehung. 7. Auflage, 2017, S. 692