Direkt zum Inhalt

Was ist Klärungshilfe?

 


"Nicht die Leichen im Keller sind das Problem, sondern dass alle so tun, als gäbe es keine."

Dirk Baecker, "Postheroisches Management"

 



 

Bevor ich auf die Klärungshilfe zu sprechen komme - von welcher Wahrheit ist hier eigentlich die Rede, im Zeitalter des systemischen Denkens und Handelns? Ist Wirklichkeit nicht immer konstruiert, weil sie das individuell und auch kollektiv gewobene Netz subjektiver Interpretationen von Sinneseindrücken ist - und damit in gewisser Weise auch beliebig? Diese Frage bezieht sich auf den kognitiven Aspekt unserer Welterfahrung: Wir wollen uns einen Reim machen auf das, was uns widerfährt und basteln uns deshalb ein Modell, mit dem wir uns erklären, warum etwas geschehen ist. Im Konfliktfall wird häufig deutlich, dass unsere Modelle nicht immer zusammen passen, einander widersprechen, und dann ist es nützlich, von unterschiedlichen Wirklichkeiten auszugehen, wenn wir in Konflikten trotz allem wieder zusammenfinden wollen. Das hilft, rechthaberische Kämpfe um die Wahrheit zu vermeiden.
 

Es gibt einen weiteren Aspekt unserer Welterfahrung: Dieser Aspekt ist unsere emotionale Resonanz auf das, was uns widerfährt, wenn wir mit anderen Menschen zusammen arbeiten und leben. Sind in einem Konfliktfall erst einmal die Emotionen da (Wut, Ärger, Enttäuschung, Angst, Schadenfreude, Neid etc... ) bewegen sie die Konfliktpartner eventuell so stark, dass die rationale Sortierarbeit ("was ist die Wirklichkeit eines jeden, und wie erklärt das die jeweiligen Verhaltensweisen?") zunächst nicht stattfinden kann - zum Beispiel weil aufgrund erlebter Verletzungen Vertrauen erschüttert oder gar zerstört worden ist und sich die Konfliktpartner deshalb nicht mehr in der Lage sehen, an eine konstruktive Fortsetzung der (Arbeits-)beziehung zu glauben. In diesem Fall ist es häufig erst einmal unmöglich, das Geschehene aus der Warte des Konfliktpartners zu betrachten. Dann ist erst einmal etwas anderes notwendig.
 

Und damit komme ich zu einer Frage, auf die jeder eine Antwort finden muss, der professionell Hilfestellung bei der Klärung von Konflikten zwischen zwei Personen oder im Team leisten will: Wie gehe ich mit aufgestauten Emotionen um - jenem Potential an teilweise enormer Energie, die je nach Veranlagung der beteiligten Personen bei Überdruck explodiert (Vorwürfe, Wutausbrüche, Intrigen, Türen knallen und mehr) oder implodiert (Selbstvorwürfe, Depressionen, Magengeschwür, Schuldgefühle, oder selbstschädigende Verhaltensweisen wie zum Beispiel die Entwicklung von Süchten)?
 

Es geht hier um die Frage: wie werde ich als Klärungshelfer den Emotionen der beteiligten Konfliktparteien gerecht? Wie berücksichtige ich sie und ermögliche den Beteiligten, wieder authentisch einander zu begegnen - so unangenehm dies auch erst einmal sein mag? Wie kann ein Neuanfang ermöglicht werden? Auf diese Fragen will ich im folgenden eingehen.
 

Meine Erfahrung ist: Wahrheit heilt. Oder besser: Gefühlte Wahrheit heilt. Vorausgesetzt es gelingt, dass sich alle Konfliktparteien den Emotionen und Sichtweisen stellen, die im Laufe eines Konfliktes entstanden sind. Wenn alles Wesentliche, das jedem auf dem Herzen lag, ausgesprochen und empathisch gehört worden ist, ist der Boden für Heilung bereitet. Ich spreche hier bewusst von Heilung und nicht von einem Schlichtungsverfahren, bei dem die Betroffenen auf ganz pragmatischer Ebene Vereinbarungen treffen, von denen alle mehr als von einer Konflikteskalation profitieren. Heilung bedeutet, dass geschwundenes oder gar zerstörtes Vertrauen wieder aufgebaut wird. Wir trauen wieder einander. Wir können uns wieder aufeinander verlassen anstatt uns zu verlassen. Zumindest sind wir wieder zu neuen Erfahrungen bereit, die das Potential haben, neues Vertrauen zu entwickeln. Wenn Heilung das Ziel ist, dann ist die Klärung der Weg dorthin. Klärung heißt, es wird ehrlicher, wir stehen zu dem, was wir im Augenblick empfinden und stellen uns dem, was wir im anderen ausgelöst haben. Dieser Weg weckt bei manchem Befürchtungen, oder löst zumindest Respekt aus - denn wer weiss schon was geschehen wird, wenn ich sage, wie's mir wirklich geht? Und was ich wohl zu hören bekomme? Droht erneute Verletzungsfefahr? Wird am Ende nicht alles nur noch schlimmer? Keine gute Ärztin wird eine Wunde schließen, bevor sie gesäubert ist. Nicht anders in der Klärungshilfe.
 

In der professionellen Klärungshilfe wird dem vorhandenen "Dreck in der Wunde" all die Aufmerksamkeit geschenkt, die nötig ist, um ihn entfernen zu können - aber auch nicht weniger. Als Dreck werden häufig Vorwürfe, Angriffe, Intrigen etc. empfunden. Der Stachel in der Wunde muss gezogen werden - das heisst erlittene Verletzungen müssen ausggesprochen und einfühlsam gewürdigt werden, damit auf neuem Grund ein gemeinsamer Weg fortgesetzt werden kann. Dieses will Klärungshilfe ermöglichen. Mag sein, dass zunächst der schon zigmal stattgefundene Schlagabtausch nicht sofort verhindert wird - vielleicht findet er sogar zum ersten mal statt -, jedoch soll dieser durch eine stark strukturierende Gesprächsführung verlangsamt und angereichert werden mit dem Ausdruck der meist nicht geäußerten Enttäuschungen und Verletzungen, die hinter solchen Aggressionen stehen. Gelingt dies, können Wünsche und Bedürfnisse ausgesprochen werden, um sich würdevoll zu einigen, wie zukünftig die Interessen eines jeden gewahrt werden.
 

Es wird der für eine Heilung der Beziehung notwendige Blick auf die schmerzhaften Wurzeln der Aggressionen gewagt. Der Blick auf diese Wurzeln wird nämlich meist aus Selbstschutz dem Konfliktpartner verweigert. Warum wird er verweigert? Wir fürchten uns vor erneuter Verletzung. In einem für uns bedrohlichen Konflikt wollen wir stark und unangreifbar erscheinen. Wenn wir ehrlich miteinander schmutzige Wäsche waschen, wird den meisten bang. Wir bekommen Angst. Angst vor dem was ans Licht kommt, Angst davor, was wir mit unseren eigenen Reaktionen beim anderen auslösen, Angst vor dem Verlust der Kontrolle über die Situation und den Bildern, die sich andere von uns machen.
 

In einer festgefahrenen und eskalierten Situation wird aufgrund dieser Ängste die wahrhaftige Auseinandersetzung zum Nadelöhr ins Land der Lösungen. Hier kommt der professionelle Klärungshelfer ins Spiel. Er fädelt sozusagen den roten Faden der Konfliktklärung ein, weist den Weg durchs Nadelöhr und ist Hüter der ehrlichen und vollständigen Auseinandersetzung. In meiner Arbeit orientiere ich mich an Christoph Thomann, der die Methode der Klärungshilfe in diesem Sinne entwickelt und in seinen Büchern ausführlich beschrieben hat. Wenn der Wunsch nach Konfliktklärung besteht, empfehle und unterstütze ich die offene Aussprache und Auseinandersetzung, weil ich immer wieder erlebe, dass kein Weg an ihr vorbeiführt, wenn die Konfliktpartner - so schwierig es sich für sie auch gerade anfühlt - wieder wirklich zu einander finden wollen oder zumindest befähigt sein wollen, miteinander die anstehenden praktischen Probleme zu lösen.
 

Was ist Klärungshilfe in ihrem Kern? Kernstück der Klärungshilfe ist der sogenannte Dialog der Wahrheit. Dabei geht es nicht um eine moderne Form des Duellierens im Beisein eines Profis, sondern um weit mehr. Wie schon erwähnt, liegt erfahrungsgemäß jeder Aggression auch ein erlebter Schmerz bzw. eine erlittene Verletzung zugrunde, die aber gerade in Konfliktsituationen als solche nicht mehr gezeigt wird. Meine Verletzung und meinen Schmerz zeige ich allenfalls in einer geschützten Situation, also nur da wo ich das Vertrauen habe, dass mit meiner Offenheit nicht Schindluder getrieben wird. Im Gegensatz hierzu werde ich in einer bedrohlichen Situation - und als bedrohlich werden ernsthafte Konflikte immer erlebt - eher nur indirekt meinen Schmerz zum Ausdruck bringen, zum Beispiel mit einem Vorwurf, einem Gegenangriff, eben mit Aggression. In kalten Konflikten zeige ich noch nicht einmal mehr offene Aggression sondern nur noch die sprichwörtliche kalte Schulter. Und das ist der Motor, der die Eskalationsspirale eines Konfliktes in Gang hält. Erlittener Schmerz erzeugt Rachegelüste, deren Ausagieren zu Verletzungen auf der anderen Seite führen, die wiederum Aggressionen erzeugen und so fort.
 

Der Ausstieg aus diesem Teufelskreis der gegenseitigen Verletzungen, in dem sich jeder nur als Opfer der Aggressionen des anderen sieht, kann auf emotionaler Ebene nur über die mitfühlende Würdigung des zugefügten Schmerzes und die Annahme des eigenen Schmerzes sein - bei gleichzeitigem Verzicht darauf, es dem anderen heimzuzahlen. Gelingt die Aussprache, steht nichts mehr zwischen den (Konflikt-)Partnern, denn jeder hat alles gesagt, was es zu sagen gibt - und nicht nur das - er hat auch spüren können, wie der andere fühlt. Wenn das zur Trennung (oder innere/tatsächliche Kündigung) führen sollte, dann wäre es eine Illusion zu glauben, der Verzicht auf die Aussprache hätte eine Trennung verhindert. Allenfalls kann eine Trennung durch Verschweigen verzögert werden.
 

Das Verschweigen schwieriger Gefühle höhlt auf Dauer die Beziehung aus - auch die Arbeitsbeziehungen - , denn wann immer ich etwas nicht ausspreche, was mich aber in Bezug auf den anderen wesentlich bewegt, gehe ich zwangsläufig aus dem Kontakt, trete nicht in Beziehung, vermeide Nähe. Dieses Unausgesprochene macht das Fundament unserer (Arbeits- )Beziehung porös und bei schwelenden Konflikten zunehmend brüchig. Der Zusammenbruch unserer Beziehung ist also bei chronischem Verschweigen von unangenehmen Wahrheiten nur eine Frage der Zeit. Wenn hier von Beziehung die Rede ist, dann meine ich damit sowohl freundschaftliche wie auch Geschäftsbeziehungen, die nur dann sinnvoll sind, wenn man aufeinander bauen kann. Werde ich in der Rolle des Klärungshelfers angefragt, geht es darum - im Bild gesprochen -, die entstandenen Hohlräume wieder mit Erfahrungen der ehrlichen Begegnung füllen zu lassen und auf diese Weise die Beziehung wieder auf ein stabiles Fundament zu stellen.
 

Die offenherzige Aussprache mag sinnvoll erscheinen - und doch birgt sie die Gefahr der erneuten Verletzung, der unkontrollierten Eskalation und überfordert den ein oder anderen Konfliktpartner. Worauf kommt es also an, wenn wir die Rolle des Klärungshelfers übernehmen?

Die Aufgabe des Klärungshelfers ist es - gleich einem Sprengmeister - eine kontrollierte Explosion in einem geschützten Rahmen zu ermöglichen. In meiner Rolle als Klärungshelfer biete ich mit einer grundsätzlich wertschätzenden und akzeptierenden Haltung gegenüber allen beteiligten Parteien und einem klar strukturierten Vorgehen den tragfähigen Boden für eine emotionale Aussprache, die nichts beschönigt, damit es danach auf ehrliche Weise besser werden kann.
 

Wertschätzung wird hier nicht als oberflächliche Freundlichkeit verstanden, sondern als eine Haltung, in der sich die Konfliktpartner ernst nehmen, und zwar dadurch, dass sie sich ihre Wahrheit zumuten und sich gleichermaßen der Wahrheit der anderen stellen. Erst wenn die in aufgestautem Ärger oder Unmut negativ gebundene Energie wieder freigesetzt ist und das darunter verborgene Schmerzliche (Enttäuschungen, Verletzungen) nicht nur nachvollziehbar sondern auch nachfühlbar geworden ist, steht diese Energie wieder für eine konstruktive und kooperative Lösungssuche zur Verfügung. Deshalb muss ich als Klärungshelfer der Versuchung widerstehen, der eigenen Sehnsucht nach Harmonie nachzugeben - etwa durch den verfrühten Einsatz verschiedenster lösungsorientierter Formulierungen, die zum Zeitpunkt der Konfliktklärung wie die Wundsalbe beim Säubern der Wunde ein Kunstfehler wäre.
 

Bei der Klärungshilfe geht es vor der Lösungssuche darum, vorhandene Emotionen zum Ausdruck zu bringen, also auch die aggressiven Emotionen nicht auszuklammern. Aber die Klärungshilfe bleibt nicht dabei stehen. Die schmerzhaften Wurzeln, die zur Aggression geführt haben, werden ebenfalls beleuchtet. Der Schmerz unter der Aggression muss auch ans Licht, damit für die jeweils andere Partei nicht nur nachvollziehbar ("im Kopf") sondern vor allem nachfühlbar ("im Herz"/"im Bauch") wird, was die bisherige Konfliktgeschichte für den anderen emotional bedeutet hat. So erfuhr ein Abteilungsleiter erst in einer Konfliktklärung von seinem Kollegen, mit dem er sich schon seit zwei Jahren in einer Art kalten Krieg befand, dass dieser eine Äußerung im Beisein des Vorstands als Gesichtsverlust empfunden hatte. Mit der ehrlichen emotionalen Resonanz des Kollegen ("Jetzt kann ich nachvollziehen, was meine Äußerung für sie bedeutet haben muss") wurde die Wende hin zu der Entwicklung einer neuen Form der Zusammenarbeit vollzogen. (Für den Abteilungsleiter gab es interessanterweise ebenfalls ein Erlebnis mit dem Kollegen, das er als ähnlich kompromittierend erlebt hatte, und diesem dann anschließend auch mitteilte).
 

Zusammenfassend kann der Ansatz der Klärungshilfe folgendermaßen beschrieben werden:
 

Über die ehrliche und vollständige Auseinandersetzung (vollständig heißt: nicht nur Schlagabtausch, sondern auch die hinter den gezeigten Aggressionen erlebten Enttäuschungen, Verletzungen) können wir wieder zueinander finden - aber nur, wenn der Schmerz hinter den Aggressionen vom jeweils anderen glaubhaft gewürdigt, d. h. mitgefühlt wird. Dieser Ansatz erfordert neben einer sauberen Auftrags- und Rollenklärung, dass der Klärungshelfer sich im Dialog der Wahrheit nicht aufgrund eigener Ängste vor schwierigen Gefühlen zum Verbündeten jener Kräfte machen lässt, die um des lieben Friedens willen ein schnelles Pflaster suchen.
 

Der Klärungshelfer ist systemisch orientiert. Zur Erklärung entstandener Konflikte - sofern dies nach dem "Dialog der Wahrheit" noch erforderlich ist - bedient er sich zirkulärer Erklärungsmodelle ("wie haben alle Beteiligten es geschafft, den entstandenen Teufelskreis aufrechtzuerhalten?"), liefert aber keine Antwort auf die Frage: "Wer ist schuld?" (lineares monokausales Denken). Statt dessen hilft er wahrnehmen und klären, was sich an Bildern, Vorurteilen und emotionalen Reaktionen zwischen die Konfliktparteien geschoben hat und den Kontakt verhindert, der für eine Fortsetzung der Zusammenarbeit notwendig ist. Er vertraut auf das Prinzip:
 

Nur das, was wirklich wahrgenommen und gewürdigt ist, verändert sich.
 

Der Klärungshelfer ist nicht neutral. Er ist allparteilich. Er verbündet sich mit allen, damit jeder zu Wort kommen kann und sich zumindest von einem im Raum vertreten und verstanden fühlt - bei aller Widersprüchlichkeit, die solch eine Allparteilichkeit in einem Konflikt mit sich bringt. Es geht aber bei der Allparteilichkeit nicht darum, jedem zu sagen: "Du hast Recht", sondern jedem die Chance zu geben, für andere nachvollziehbar zu machen, wie sich der Konflikt aus seiner Sicht darstellt und was er dazu fühlt.

Praktische Hinweise für das Führen von Klärungsgesprächen in der Rolle der Führungskraft siehe auch folgenden Link:

Moderation von Konfliktklärungen


Als Klärungshelfer garantiere ich nicht, dass eine (Arbeits-)Beziehung wieder besser wird, sondern helfe zu klären, ob es noch Potential gibt, die Beziehung auf erfreulichere Weise als bisher fortzuführen - und was es braucht, damit dieses Potential realisiert werden kann. Das Ergebnis einer Klärungshilfe kann auch sein, dass klar wird, dass es dieses Potential nicht mehr gibt. Für diesen Fall finden sich hier ein paar Anregungen:

Die Kunst, schlechte Nachrichten zu überbringen - und zu überleben

 


 

Literatur 
 

  • Pörksen, Bernhard; Schulz von Thun, Friedemann: Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik. Hanser Verlag, 2020.
  • Thomann, Christoph; Schulz von Thun, F.: Klärungshilfe 2: Konfliktklärung im Beruf: Methoden und Modelle klärender Gespräche, 2004



 

 


 

Weblinks